Legende = Unwahrheit? Ein verbreitetes Missverständnis

Bibel verstehen

Bild von der Kuppel von St. Peter (vassilis738 auf Pixabay)

Vaticanum II, Offenbarungskonstitution Dei Verbum Nr. 12 (November 1965):

„Um die Aussageabsicht der Hagiographen zu ermitteln, ist neben anderem auf die literarischen Gattungen zu achten. Denn die Wahrheit wird je anders dargelegt und ausgedrückt in Texten von in verschiedenem Sinn geschichtlicher, prophetischer oder dichterischer Art, oder in anderen Redegattungen.“ (Hervorhebung: gst.)

Das heißt: Die beliebten und verbreiteten „Gleichungen“  

            historisch = wahr          und                        legendenhaft = unwahr

gehen völlig an der Sache vorbei, weil hier zwei Ebenen (die literarische Form einerseits und die Wahrheitsfrage andererseits) nicht unterschieden werden, ein klassischer Kategorienfehler mit weit reichenden Folgen! Es geht um die Frage, wie im den biblischen Texten Wahrheit kommuniziert wird. Das ist sorgfältig zu erforschen, weil es nicht immer auf der Hand liegt.

Die biblische Wahrheit ist nicht auf historische Fakten oder historische „Kerne“ von Texten zu reduzieren. In den literarischen Gattungen, so sagt das Konzil, wird die Wahrheit(!) je auf unterschiedliche Weise mitgeteilt.

Konkret: Eine Schöpfungserzählung ist nicht dann und nur dann wahr, wenn die Weltentstehung im Sinn der Physik und Biologie so und nicht anders abgelaufen ist, wie es erzählt wird. Eine Wundergeschichte berichtet nicht von einem nach unserem modernen Medizinverständnis fixierbaren Heilungsvorgang oder einem fotografierbaren Seewandel.

Das Konzil hält fest: Die Wahrheitsfrage lässt sich nicht jenseits der Gattungen beantworten (nach dem Muster: „Was lag an harten historisch zu ermittelnden Fakten dahinter?“), sondern nur in der sorgfältigen Beachtung der Gattungen und ihrer Eigentümlichkeiten  (d.h. der Sprachkonventionen, der Bildsprache der Bibel, der Kultur, der Weltsicht einer bestimmten Zeit usw.). Die Literaturdimension der Hl. Schrift kann und darf man nicht überspringen – auf vermeintlich sichere Fakten hin. (Ein älterer Priester hat einmal bei einer Diskussion über „Jungfrauengeburt“ scharfsinnig bemerkt: „Mir ist nicht bekannt, dass die Gynäkologie eine theologische Hilfswissenschaft ist.“ Damit hat er die Sache auf den Punkt gebracht.)

Das Thema ist für die Kath. Kirche amtlich schon seit der Bibelenzyklika Pius XII. von 1943(!)geklärt, aber aufgrund mangelnder Differenzierung gibt es immer wieder Anlass zu Irritationen und leider auch Ver-dächtigungen, mit solchen Differenzierungen werde der Glaube zerstört, der Wahrheitsanspruch der Bibel untergraben u.ä.m.

Die Position wurde 2014 noch einmal von der Päpstl. Bibelkommission bekräftigt:

„Auch heute unterscheidet sich die Wahrheit eines Romans von der eines Physiklehrbuchs. Es gibt verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben; sie muss nicht immer eine genaue Chronik sein. Ein lyrisches Gedicht drückt nicht das aus, was sich in einem epischen Gedicht findet usw. Diese Feststellung gilt auch für die Literatur des Alten Orients und der hellenistischen Welt. In der Bibel finden wir verschiedene literarische Gattungen, die in diesem kulturellen Bereich verwendet wurden: Gedicht, Prophezeiung, Erzählung, Gleichnis, Hymnus, Glaubensbekenntnis usw. – jede hat ihre eigene Weise, die Wahrheit auszudrücken.“

(Inspiration und Wahrheit der Hl. Schrift, Nr. 104)

Prof. Dr. Georg Steins

Literatur:

Päpstliche Bibelkommission, die Interpretation der Bibel in der Kirche (vom 23.4.1993), Verlautbarungen des Apost. Stuhls 115 (zu finden unter: www.dbk.de (Veröffentlichungen))

Päpstl. Bibelkommission, Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift. Das Wort, das von Gott kommt und von Gott spricht, um die Welt zu retten (vom 22.2.2014), Verlautbarungen des Apost. Stuhls 196 (zu finden unter: www.dbk.de (Veröffentlichungen))

Georg Steins, Ist die Bibel wahr? Bibelauslegung zwischen Wortwörtlichkeit und Beliebigkeit, Kath. Bibelwerk Stuttgart 2008.