Über Geschichten und Wahrheit

Bibel verstehen

Zwei Länder, zwei Kulturen – die Bibel und wir

Warum erzählt mir die Bibel Geschichten und sagt mir nicht die Wahrheit?

Wie kann man diese Frage beantworten, wie kann man diese Sache verstehen, womit kann man diese Sache vergleichen?

Es ist wie mit zwei ganz unterschiedlichen Ländern, mit zwei ganz unterschiedlichen Gesellschaften, die ganz unterschiedliche Kulturen haben.
In dem einen Land sind die Menschen stolz auf ihre Kultur der Berichte und Nachrichten. Morgens zum Frühstück werden die Berichte der Zeitungen studiert, die genau schildern, was am Tag zuvor in diesem Land und in der ganzen Welt passiert war. Manchmal auch wird dazu noch ein Radio eingeschaltet, wo es aktuelle Nachrichten und Berichte zu hören gibt. Der Abend in diesem Land beginnt mit der „Tageschau“, aber es ist keine Show, es sind Nachrichten, die verlesen und mit Bildern belegt werden, damit jeder sehen kann, wie genau sie die Realität wiedergeben. Ganz natürlich hat sich in diesem Land auch eine bedeutende Wissenschaft entwickelt, objektiv geht sie jeglicher Realität genau auf den Grund, wie alles war und wie alles geworden ist, große und komplexe Theorien werden dazu entworfen. Wer in diesem Land fragt, wie die Welt entstanden sei, der bekommt klare Auskunft, von Evolution und Urknall ist die Rede und er wird auf viele dicke Bücher verwiesen, die alles im Detail erklären.
Neben diesem Land der Nachrichten und Berichte und der objektiven Wissenschaft existiert in unmittelbarer Nachbarschaft ein Land, das kulturell ganz anders orientiert ist. Dort gibt es keine Zeitungen und Nachrichtensendungen, ja, es gibt eigentlich überhaupt keine Berichte. Die Menschen erzählen sich, was wichtig ist. Und sie sehen abends nicht die „Tagesschau“, sie treffen sich und erzählten sich Geschichten, erfundene Geschichten. Wohlgemerkt, erwachsene Leute treffen sich in diesem so anderen Land abends zum Geschichtenhören und Geschichtenerzählen. Im Land der Nachrichten dagegen weiss man längst, dass Geschichten nur etwas sind für kleine Kinder. In der Schule werden diese Kinder daher schnell und erfolgreich in die erwachsene Kunst der Berichte und der objektiven Wissenschaft eingeführt. Im Land der Geschichten ist dies ganz anders. Hier lernt man geradezu das Geschichtenerzählen, auch in der Schule. Hier kann es passieren, dass einer der wichtigen religiösen Führer, der zum König geht, um ihm eine Botschaft von Gott zu überbringen und um ihn moralisch zu belehren, dass dieser religiöse Führer dem König, wirklich dem König, einfach eine Geschichte erzählt. Eine Geschichte zudem, die noch nicht einmal von einem König handelt, sondern von einem Mann und seinem Lamm erzählt. Eine klassische Kindergeschichte, so würde die präzise und sachliche Einordnung der Leute im Land der Nachrichten lauten. Im Land der Geschichten, da kann es auch passieren, dass man auf die Frage, wie die Welt entstanden sei, keine erklärende sachliche Antwort, sondern eine Geschichte serviert bekommt. Von einem Gott wird dort erzählt, der in sieben Tagen diese Welt geschaffen und die Gestirne des Weltraums, des unendlichen ewig expandierenden Alls, als Lampen an einen sog. Himmel befestigt habe. Es ist wahrlich ein seltsames Land, dieses Land der Geschichten.
Man kann sich vorstellen, dass diese beiden Länder sich bis heute fremd geblieben sind, ja, eigentlich werden sie sich immer fremder. Sicher hat es gelegentlich einmal Kontakt gegeben, aus unterschiedlichsten Gründen versuchten Menschen aus dem Land der Nachrichten und Berichte dieses fremde Nachbarland zu besuchen und zu erkunden. Es war in der Regel kein Vergnügen. Klare Antworten bekamen die Fremden nicht, und was brauchen Fremde mehr als klare Antworten. Die Menschen dort waren in der Regel freundlich, Gastfreundschaft war ihnen anscheinend ein hoher Wert, das wussten die Besucher aus dem Land der Nachrichten und Berichte durchaus zu schätzen. Nur mit einem kamen sie einfach nicht klar, nie wusste man, erzählen sie mir nun die Wahrheit oder erzählen sie mir einfach eine Geschichte.

(Thomas Nauerth)