Lesehilfe Gewalt

Bibel verstehen

Einige Lesehilfen zu Bibeltexten, die Gewalt zu befördern scheinen

„Weil aber die Heilige Schrift in demselben Geist, in dem sie geschrieben wurde, auch zu lesen und auszulegen ist, ist für die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte nicht weniger sorgfältig auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift zu achten, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der ganzen Kirche und der Analogie des Glaubens.“ (Vaticanum II, Offenbarungskonstitution Dei Verbum Nr. 12)

Neben den „historischen“ Regeln aus der Offenbarungskonstitution Dei Verbum 12 verdienen diese „theologischen“ Regeln, die schnell überlesen werden, eine eigene Beachtung für eine umfassende Hermeneutik (= Lehre vom Verstehen) der Bibel. In dem Eingangszitat werden 3 Gesichtspunkte angesprochen, die es zu beachten gilt:

  1. die strukturierte Ganzheit der Schrift
  2. die Kirche als globale, zeit- und weltumspannende Interpretationsgemeinschaft mit ihrem reichen Schatz an Lektüreerfahrungen und
  3. die Ausrichtung der Lektüre am grundlegenden Glaubensbekenntnis (= „regula/analogia fidei“).

Aus diesen abstrakt klingenden Gesichtspunkten lassen sich Hilfen für das Verständnis der oft verstörenden biblischen Texte entwickeln, die Gott, Glaube und Gewalt – wie es scheint – unkritisch zusammenbringen.

Lesehilfe 1: Der richtungweisende gewaltlose Anfang

Die Aufrichtung einer „sehr guten“ Lebens-Ordnung (Gen 1,31) durch Gott geschieht nicht in einem gewaltsamen Kampf. Dem kanonischen Aufbau der Bibel folgend erscheint Gewalt vielmehr als menschliche Aktion gegen die „gute“, lebensfördernde Schöpfertätigkeit Gottes (vgl. Gen 6,5.11-13).
Die Todes-Mächte (symbolisiert durch Finsternis, Urflut, lebensfeindliche Wüste) werden nicht vernichtet, sondern durch das souveräne Macht-Wort des königlich agierenden Schöpfergottes integriert in eine Friedens-Ordnung, die z.B. auch die Urkonkurrenz der Lebewesen um Nahrung durch einen klaren Entscheid ausschließt (Gen 1,29f).

Lesehilfe 2: Zeugnis und Gegenzeugnis

In der Vielstimmig- und Vielsinnigkeit (Polyphonie und Polysemie) der Schrift drückt sich nicht selten auch im Zusammenhang offenkundig gewaltaffiner Text eine implizite Hermeneutik der Ergänzung durch andere Perspektiven bis hin zur Korrektur und zum Gegenzeugnis („countertestimony“, so Walter Brueggemann) aus. Es gibt in der Bibel, in der sich die Erfahrungen und das Nachdenken mehrerer Jahrhunderte spiegeln, so etwas wie eine  Selbstkorrektur im Überlieferungsprozess. Ein Beispiel: Inmitten der Kriegsgeschichten mit ihrer Tendenz zur Heldenverehrung gibt es Gegengeschichten von Gewaltverzicht (vgl. 1 Sam 24 u. 26). Oder das traditionelle Kriegspathos („Wir – mit Gott –zum Sieg!“) wird durch leidvolle eigene Erfahrungengebrochen und das Gottes- und Selbstbild wird „korrigiert“ (vgl. Ps 44).

Lesehilfe 3: Erzählung als Geschichtsbewältigung

Die Bibel berichtet nicht, sie erzählt. Besteht schon immer eine Differenz zwischen Ereignis und Erzählung (erzählen heißt: „imaginieren“, Erfahrungen ins Bild bringen– „ein-Bild-en“ – und dadurch deuten), so ist diese Differenz in der Bibel besonders groß, weil die Bibel von Gott erzählt. Wenn von Gott gesprochen wird, ändert sich aber immer der Charakter eines Textes grundlegend, der Text wird zum „Mythos“ (= Göttergeschichte); denn von Gott kann man nicht „realistisch“ erzählen, da Gott niemals ein Ding der Welt ist. Anders betrachtet: Gerade der Mythos öffnet das Fenster zur Hintergründigkeit der Welt, in ihm können die „verborgenen Sachen“ (René Girard) zur Sprache kommen.

An dieser Stelle kommt es nicht selten zu einem biblizistisch-fundamentalistischen Kurzschluss: Mythos, Legende usw. werden ohne Überlegung mit Unwahrheit gleichgesetzt. Das Vaticanum II trägt hier zur Differenzierung und Versachlichung bei, indem das Konzil sauber zwischen der literarischen Kommunikation einerseits und der Wahrheitsfrage andererseits unterscheidet: „Jeweils anders nämlich wird die Wahrheit in Texten, die auf vielfältige Weise historisch, prophetisch oder poetisch sind, oder in anderen Redegattungen vorgelegt und ausgedrückt.“ (Dei Verbum 12)
Das heißt: eine Erzählung, in der Gott vom Himmel her spricht, teilt Wahrheit anders mit als ein Bericht über die Eroberung Jerusalems.

Von hieraus eröffnet sich ein Zugang etwa zu den sperrigsten Texten der Bibel, die um den sogenannten „Bann“ kreisen, also um die von Gott angeordnete „Vernichtungsweihe“ ganzer Völker im Land Kanaan (vgl. Dtn 7 u. 20). Nicht nur, dass es diese „Säuberungsaktionen“ historisch nie gegeben hat, sie gehören in das Umfeld der Auseinandersetzung mit dem katastrophischen Schicksal Israels unter den Assyrern im 8. Jh. v. Chr. Ein Zweig der biblischen Literatur versucht diese Katastrophen zu bewältigen im Horizont des ersten Gebotes – und erzählt, wie das Leben unter der Tora einst in der fernen Vergangenheit (zur Zeit dieser „exotischen“ Völker wie Hiwiter und Girgaschiter) gedacht war und wie es kommen konnte, dass das erste Gebot bei den Israeliten so wenig Beachtung fand usw. Erzählungen wollen Erfahrungen „erschließen“, nicht moralistisch verzweckt werden. Sie bauen eine eigene Welt auf.

Der Bezug dieser erzählten Welt zu unserer Welt wird im Alltag meistens intuitiv richtig geregelt und verstanden. Wir lassen uns von der Eigenwelt einer Erzählung ansprechen, faszinieren und im wahrsten Sinne des Wortes „auf andere Gedanken bringen“. Hier hat die Wahrheitsfrage anzusetzen, nicht (wie man auf den ersten Blick vermuten könnte) bei der Frage, ob es in der erzählten Welt immer mit rechten Dingen zugeht. In der Erzählung geht es nämlich so zu, wie der Erzähler will, dass es darin zugeht (da gibt es Engel und Stimmen aus dem Himmel usw.); da haben wir als Leserinnen und Leser nicht hineinzureden, wir sollen und dürfen zuhören, staunen und uns bereichern lassen.

Lesehilfe 4: Erfahrungen mit einer altkirchlichen Alternative zur „Wortwörtlichkeit“

Nach einer Phase euphorischer Rezeption „historisch-kritischer Exegese“ mit einer Ablehnung traditioneller kirchlicher Zugänge (einer wesentlich vom Wissenschaftsverständnis des 19. Jahrhunderts geprägten Lektüreweise) haben die radikalen Veränderungen in der hermeneutischen Diskussion des ausgehenden 20. Jahrhunderts den Blick wieder geöffnet für die gültigen Leistungen der altkirchlichen Bibelauslegung. Das ist das interessanteste Diskussionsfeld gegenwärtiger Schrifthermeneutik.

Was auf den ersten Blick als „spiritualisierende“, weltfremde und individualistische Lektüre biblischer Gewalttexte erscheint, entpuppt sich auf den zweiten Blick als „modern“ im Sinne einer Identifizierung von Gewaltanteilen im eigenen Denken und Sprechen und als Möglichkeit, die Schattenseiten der eigenen Existenz „vor Gott“ zu bearbeiten und heilvoll zu transformieren. Die Konfrontation mit den biblischen Texten führt so in einen Prozess der Abkehr von Ängsten, Feindbildern und zerstörerischen Ansätzen, kurz: zur Umkehr. Der Bibeltext gibt zu tun, aber nicht im Sinne einer religiösen Legitimation eigener Gewalt, sondern einer oft mühsamen Abkehr vom Bösen als Weg in die Nachfolge.

Die „geistliche Schriftlektüre“ nimmt den Text in der Perspektive der drei göttlichen Tugenden wahr (allegorisch: Glaube; moralisch: Liebe; anagogisch: Hoffnung) und entbindet so die formative, die Wirklichkeit gestaltende Kraft von Literatur. Beim Lesen schon ändert sich das Leben.

Die Psalmen zum Beispiel sprechen viele an, es sind oft „schöne“ Texte. Oft aber ist auch von Feinden die Rede, wird deren Vernichtung von Gott erhofft. Ebenso irritierend ist in vielen Psalmen der plötzliche Stimmungswechsel von der Klage über die Notlage zu Dank und Lob. Glaube, Liebe und Hoffnung bieten einen Schlüssel, diese Texte religiös zu verstehen, als Partituren der Transformation, einer göttlichen Verwandlung: In der Klage drückt sich ein intensiver Glaube an Gott aus; Gott wird angesichts des Leids nicht abgeschrieben, sondern als letzter Helfer in der Not angeschrien. Die Liebe verklärt nicht die argen Zustände, sieht und benennt, was das Leben hindert und es zerstören will; sie nimmt auch die Feinde und alles Negative (als Teile der eigentlich guten Schöpfung Gottes) „ins Gebet“ um Rettung auf. Die Hoffnung liest die kleinen Erfahrungen heilvoller Veränderung auf und hält an Gottes Verheißung der großen Verwandlung, „dem neuen Himmel und der neuen Erde“, fest.

Lesehilfe 5: Das „Gewaltmonopol“ Gottes

Der Einsatz massiver Gewaltvorstellungen (vor allem in jüngeren apokalyptischen Texten) geht bemerkenswerterweise einher mit einer „Monopolisierung“, einer Verlagerung der Gewalt auf Gott (Röm 12,19): „Mein ist die ‚Rache‘[= Richtigstellung], ich werde Ausgleich verschaffen!“ Die „tierischen“ Reiche der Welt werden zum Beispiel abgelöst „durch einen wie einen Menschen, der auf den Wolken des Himmels kommt“ (vgl. Dan 7; dazu Dan 2,34.45: „ohne Zutun von Menschenhand“).

In Spr 20,22 steht der vielleicht wichtigste und klügste Satz der ganzen Bibel zur Frage der Überwindung der Gewalt: „Sag nicht: Ich will das Böse vergelten. Vertrau auf den Herrn, er wird dir helfen!“ Jesus meint in den Disputationsworten der Bergpredigt (Mt 5,33-48; 6) nichts anderes. Eine parallele Verlagerung lässt sich bzgl. der Friedensvorstellung ausmachen: Der Shalom wird von Gott in Absetzung von politischen Mächten durchgesetzt und auf alle Völker ausgeweitet (vgl. Jes 55).

Nicht zuletzt:

Dietrich Bonhoeffer hat einen kritischen Maßstab für jede interessierte Berufung auf die Bibel formuliert:
„Wir haben unsere eigenen Gedanken lieber als die Gedanken der Bibel. Wir lesen die Bibel nicht mehr ernst, wir lesen sie nicht mehr gegen uns, sondern nur noch für uns.
Wir müssen die Bibel ganz anders lesen.

(Bonhoeffer, Werke 11, 350ff)



Prof. Dr. Georg Steins Universität Osnabrück, 2020