Wo das Wunder in der Bibel wohnt

Bibel verstehen
Eine Gräte vom Wal des Jona im Dom zu Magdeburg

Die Frage, wo das Wunder in der Bibel vorkommt und seine Heimat hat, klingt zunächst etwas seltsam. Mit etwas Mühe und nach einigem Nachdenken lautet dann die Antwort in der Regel, das Wunder in der Bibel hat seine Heimat in den Wunderberichten oder Wundergeschichten. Was aber genau sind „Wundergeschichten“? Man differenziert in der biblischen Forschung wie in der biblischen Bildung sprachlich bekanntlich sehr eifrig (vielleicht ein speziell deutsches Phänomen, vielleicht der modernen wissenschaftlichen Welt geschuldet, vielleicht unvermeidlich, wegen sprachlicher Präzision); man präpariert immer neue Textsorten heraus, differenziert beispielsweise grundlegend zwischen Gleichnissen und Wunder­erzählungen, differenziert sogar diese beiden Textsorten noch einmal emsig in diverse Untergruppen und Unteruntergruppen ─ und vergisst darüber oder verdeckt zumindest, dass all diese Textsorten zu einer einzigen literarischen Gattung gehören:
es sind alles Geschichten.

Die erzählte Welt als Gleichnis

Geschichten haben, im Gegensatz zu Berichten, eine sog. „erzählte Welt“ und diese erzählte Welt, also alles das, was in einer Geschichte so erzählt wird, ist nicht unbedingt mit der Welt des Erzählers oder der Erzählerin gleichzusetzen. In Berichten gibt es keine erzählte Welt, sondern es werden reale Ereignisse aus der realen Umwelt des Berichterstatters berichtet, das kann mal mehr mal weniger präzise glücken, je nach Fähigkeit und Verfassung des Berichterstatters bzw. der Berichterstatterin.

Biblische Wunder also sind zunächst Phänomene der erzählten Welt von erzählten Geschichten und müssen als Phänomene einer erzählten Welt verstanden werden.

Sicher kann man auch reale Ereignisse zu Geschichten wandeln oder, anders herum gedacht, aus realen Ereignissen Geschichten bilden oder, noch etwas anders gedacht, manche reale Ereignisse besonderer Art brauchen unbedingt eine Verwandlung in eine Geschichte und vertragen keinen Bericht. Geschichten, die auf ein reales Ereignis zurückgehen, auf eine Erfahrung, eine Erkenntnis, eine Intuition, unterscheiden sich von Berichten dadurch, dass das was erzählt wird, ihre erzählte Welt nicht gleichzusetzen ist mit dem Zielpunkt des Erzählens. Das Verhältnis zwischen erzählauslösender Erfahrung, erzählanstoßendem Ereignis, erzählbegründender Erkenntnis und der erzählten Welt ist symbolhaft, gleichnishaft. Generell könnte man das Verhältnis von Erzählziel und erzählter Welt als gleichnishaft bezeichnen, es geht einer Erzählung nie um Mitteilung der Details in der erzählten Welt, sondern es geht immer um durch diese Erzählung angestoßene Erkenntnis/Erfahrungsprozesse.

Wenn nur eine erfundene Geschichte hilft

Das Phänomen, dass bei manchen realen Ereignissen ein Bericht unmöglich erscheint, und nur eine – erfundene! – Geschichte adäquat erscheint, bedarf einer genauen Betrachtung, zumal dieses Phänomen in der Regel übersehen wird. Warum bedarf es selbst in unserer Nachrichtenmoderne mit ihrer Fixierung auf den präzisen Bericht manchmal einer Fiktion, um eine Wahrheit kommunizieren zu können? Weil diese Wahrheit nur auf diese Weise in Sprache zu bringen ist. Bedarfe von Fiktion zur Kommunikation von realen Ereignissen, von Erfahrungen, die sonst nicht mitteilbar sind, bestehen bei ganz bestimmten existentiellen Ereignissen: „ich hole für Dich die Sterne vom Himmel!“ Das verstehen sogar wir noch unmittelbar und rufen weder die Polizei (wegen offensichtlich beabsichtigter Sachbeschädigung bzw. intendiertem Diebstahl von Allgemeingut), noch schließen wir für den uns in der Regel doch sehr am Herzen liegenden Menschen, der dies gerade äußert, schnell eine Unfallversicherung ab. Nein, die Cosmos Direkt App bleibt ungeöffnet und wir sind gerührt, werden viel­leicht sogar angesichts dieser nie und nimmer realistisch verstehbaren Aussage et­was rot im Gesicht. Was Fiktion so auslösen kann… !

Denn die Aussage „ich hole für Dich die Sterne vom Himmel!“ ist Fiktion, phantastische Fiktion, maßlose Übertreibung ─ und tiefe Wahrheit. Sie ist darüber hinaus nichts weniger, nichts anderes als die Abreviatur einer Erzählung. Ungefähr so könnte eine narrative Langfassung lauten:

„Wie könnte ich die Größe meiner Gefühle anschaulich beschreiben? Womit soll ich diese Sache vergleichen? Es war einmal ein Mann, der eines Tages nach den Sternen griff. Einen Stern nach dem anderen holte er vom Himmel, denn er brauchte dringend Geschenke, die größten Geschenke, die er finden könnte für die größten Gefühle die er je gehabt hatte.“

Als ausformulierte Erzählung gehört die Aussage vom „Holen der Sterne“ unverkennbar zur Gattung Gleichnis, Unterabteilung Wundergeschichten. Man stößt hier also auf das Phänomen, das erfundene gleichnishafte (Wunder-)Geschichten in menschlicher Kommunikation auch heute noch große Wirkungen entfalten können. Auch heute noch können Menschen bestimmte, sehr wichtige, existentiell entscheidende und lebensverändernde Sachverhalte nicht berichtend in Sprache zum Ausdruck bringen. Auch in der wissenschaftlichen Moderne gibt es bislang keine Konvention, solche Sachverhalte durch doch oft nachweisbar vorhandene naturwissenschaftlich präzise, messbare Phänomene zur Sprache zu bringen: „Immer wenn ich dich sehe, erhöht sich mein Puls um X, und mein Blutdruck um Y und außerdem ist eindeutig eine erhöhte Aktivität der Schweißdrüsen zu verzeichnen, usw. usw.“ Man würde sich auch in unserer naturwissenschaftlich orientierten Postmodern schlicht lächerlich machen, mit solch einem vernünftigem diagnostisch präzisem Bericht. Stattdessen  kommunizieren auch wir heutzutage in bestimmten existentiellen Situationen mit lächerlichen, fiktiven Metaphern: „oh du mein einziger Schatz.“ Auch heute haben alle Menschen Erfahrungen damit, dass manchmal die Wahrheit nur in Verkleidung den Weg zu uns finden kann: „und das Kleid ist Erzählung. Aber so, verhüllt und vermittelt, ist Wahrheit eben doch zu greifen. Die Geschichten tun uns die Augen auf“.

Den Glauben an die Geschichten wiedergewinnen

Sobald man sich diesen Sachverhalt klar gemacht hat, wird deutlich, wie vorsichtig man in Bezug auf Kommunikationsgewohnheiten anderer Zeiten und Kulturen zu sein hat. Der Literaturwissenschaftler(!) Gisbert ter Nedden bemerkte einmal lapidar nicht der Glaube an Gott, sondern der Glaube an die Parabel ging im 19. Jahrhundert verloren  ─ und davon allerdings konnte der Glaube an Gott auch nicht unberührt bleiben. Ein geradezu ungeheuerlicher Satz, auf den ein moderner Theologe wohl niemals käme…

Besteht bei den Wundererzählungen das Problem vielleicht in ähnlicher Form? Unser an Nachrichten und Zeitungsberichten geschulter Sinn nimmt diese Erzählungen anscheinend automatisch unter der Frage auf, was genau ist passiert? Die erzählte Welt der Wundergeschichte wird kritisch daraufhin reflektiert, ob sie als reales Ereignis naturwissenschaftlich Sinn ergibt. Aus einer Wundererzählung wird so unter der Hand ein mirakulöser Bericht, der unseren wissenschaftlichen Kriterien natürlich nicht standhält. Dieser Reflex, aus einer Erzählung, wenn in der erzählten Welt ein „Wunder“ passiert, sogleich einen Bericht zu machen und die Glaubwürdigkeitsfrage zu stellen, verstellt jeglichen Zugang zur ersten und einzig sinnvollen Frage, die an eine jede Geschichte zu richten ist: was will mir diese Geschichte sagen, was ist der Sinn dieser erzählten Welt? Das sog. Wunder in der erzählten Welt einer Erzählung wird, wenn diese Frage nach dem Sinn der erzählten Welt gestellt wird, erkennbar als ein Zeichen, das ich deuten muss.

Das Wunder als Zeichen, das der Leser, die Leserin zu deuten hat

Es gibt in der Bibel, im Alten Testament eine interessante Szene, in der die Funktion von Wundern, der Zeichencharakter von Wundern selbst zum Thema wird. In Ex 7,10 gehen Mose und Aaron, mit klopfendem Herzen, wie man annehmen muss, zum Pharao. Die ganz praktische Frage, die sich stellt, wie weist man sich aus, als von Gott gesandt? Behaupten kann man bekanntlich vieles und einen Dienstausweis wird Gott in Ex 3 nicht ausgestellt haben. Also versucht man es mit Wundern: „Aaron warf seinen Stab vor den Pharao und seine Diener hin und er wurde zu einer Schlange“ (Ex 7,11). Der Gedanke ist offensichtlich, auf diese Weise die göttliche Macht zeigen zu können, die hinter ihren Forderungen steht. Die Szene ist insofern lehrreich, weil sie zeigt, dass Wunder immer in einem Kommunikationszusammenhang stehen. Nie ist das Wunder an sich der Zielpunkt, so wie es vielleicht noch Kinder anstreben: „Guck mal, was ich alles kann“! Immer geht es um eine Botschaft, eine Aussage, die vermittelt werden soll. Immer ist das Wunder ein hinweisendes, legitimierendes Zeichen, in der Literatur so wie im echten Leben. Wenn dies stimmt, dann relativiert sich die heute so brennende Frage Bericht oder Erzählung, Tatsache oder Fiktion enorm. Denn sie läuft dann letztlich auf die letztlich unerhebliche Frage hinaus, wer genau das Wunder erfunden hat, der biblische Schriftsteller oder Gott selbst. Unerheblich ist diese Frage, weil es eben vorrangig darauf ankommt, den Zeichencharakter des Wunders richtig zu deuten.

Wenn beispielsweise in Lk 1,26-33 das Wunder jungfräulicher Empfängnis im Text eingespielt wird, dann darf das auch dort nicht gelesen werden im Sinn von „guck mal was ich kann“, sondern dann muss auch dort danach gefragt werden, was ist die Botschaft dieses Zeichens. Josef Ratzinger hat diese Botschaft einmal folgendermaßen so zusammengefasst:

"Die Jungfrauengeburt (...) ist zuerst und zuletzt Gnadentheologie, Botschaft davon, wie uns das Heil zukommt: in der Einfalt des Empfangens, als unerzwingbares Geschenk (...) In Jesus hat Gott inmitten der unfruchtbaren und hoffnungslosen Menschen einen neuen Anfang gesetzt, der nicht Ergebnis ihrer eigenen Geschichte, sondern Geschenk von oben ist." 

Eine nach wie vor treffende und treffliche Interpretation. Nur ist Ratzinger, wie er direkt im Anschluss explizit betont, der Überzeugung, „daß alle diese Aussagen Bedeutung nur haben unter der Voraussetzung, daß das Geschehnis sich wirklich zugetragen hat„.  Eine Begründung dafür fehlt. Nur wenn Gott selbst sich dieses Wunder ausgedacht hat, kann es für Ratzinger gnadentheologisches Zeichen sein, Botschaft davon, wie uns das Heil zukommt. Warum nur dann? Wer Lk 1,26-33 insgesamt für eine literarische Bildung hält, der würde formulieren: Lukas hat sich dieses Wunder ausgedacht, eben als ´gnadentheologisches Zeichen, Botschaft davon, wie uns das Heil zukommt´. Diese gnadentheologische Botschaft des Lukas wiederum wurzelt selbstverständlich in seiner Gottes- und Christuserfahrung, an der wir über sein Evangelium partizipieren und die durch die Aufnahme in den neutestamentlichen Kanon durch die Kirche insgesamt als glaubhaft und gültig bestätigt wurde.

Der ganze Unterschied zwischen einem Verständnis von Wunder als Bericht oder Literatur ist also ein sehr kleiner. Entweder hat sich Gott die Wunder ausgedacht, uns zum Zeichen, und die Evangelisten haben alles fein säuberlich protokolliert oder aber die Evangelisten haben das Wunder als Zeichen erfunden, um uns etwas von ihrer Erfahrung in der Nachfolge Jesu mitzuteilen.

Der Unterschied ist wahrlich geringer als er auf dem ersten Blick scheinen mag. Denn in jedem Fall kommt es darauf an, dass wir das Zeichen „Wunder“ richtig interpretieren und nicht auf einer recht kindlichen Ebene stehen bleiben („boah, was der alles kann“). Dann nämlich haben wir nichts gelernt, was sowohl den göttlichen wie den menschlichen Autor sehr betrüben dürfte.


Thomas Nauerth

Literatur:

Ratzinger, Josef, Einführung in das Christentum, München 1968, 228.

Peter von Matt, Vom Schicksal der Phantasie. Ein Vorwort, in: Ders., Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur, München, Wien 1994, S. 7-10, S. 7

Gisbert Ter-Nedden, Das Ende der Lehrdichtung im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Schrift. Antithesen zur Fabel- und Parabelforschung, in: Theo Elm/ Hans Helmut Hiebel (Hg.), Die Parabel. Parabolische Formen in der deutschen Dichtung des 20. Jahrhunderts, Frankfurt 1986, S. 58-78, S. 73.