Leitwortanalyse im NT

Bibel analysieren zu biblischen Texten

Mk 10,46-52 als Beispiel für die Bedeutung von Leitworten im NT

Martin Buber und Franz Rosenzweig haben ihre 1925 gemeinsam begonnene Verdeutschung der Schrift[1] begleitet durch eine intensive Reflektion über die erzählerischen Eigenart(en) der Bibel. Vor allem die von Buber intensiv reflektierte stilistische Technik des sog. Leitwortes hat breitere Aufmerksamkeit erfahren.[2] Im Hintergrund steht die Beobachtung, dass die biblischen Erzähler noch nicht die Möglichkeit besaßen, selbst kommentierend in der Erzählung auf­zutreten. Ein Erzähler, der nicht auktorial kommentierend seine Erzählung begleiten kann, ist gezwungen, seine Botschaft allein durch die Art seines Erzählens auszudrücken, er muss alles, was er ausdrücken will, in die Erzählung `einwandeln´. Daher muss die Botschaft „in die Gestaltung“ der Erzählung eindringen, „sie bestimmt die Gestalt mit, sie wandelt sie um, wandelt sich ihr ein, ohne aber im geringsten entformend, umrißschwächend, didaktisch zu wirken.[3] Genau dieser Aufgabe dient das sog. Leitwort. Franz Rosenzweig hat die Aufgabe des Erzählers so beschrieben:

Er muß das Stichwort in den Bezirk der Erzählung selbst verlegen, damit der epische Bericht, ohne seine epische Selbstgenügsamkeit einzubüßen, die pointierte Stoßkraft der Anekdote bekommt. (…) So hat jede biblische Erzählung in sich selbst Stichwort und Pointe.
Und jede Pointe kann wieder Stichwort für eine nächste werden.[4]

Wenn Buber und Rosenzweig als jüdische Theologen von `biblischer Erzählung` sprechen, haben sie das AT, den ersten Teil der christlichen Bibel vor Augen. Aber auch im zweiten Teil der christlichen Bibel, dem NT findet sich dieselbe grundlegende Eigenart biblischen Erzählens. Dies soll im Folgenden an einem kleinen Beispiel aus dem Markusevangelium gezeigt werden.

In der jüngeren Forschung wird das Markusevangelium zunehmend als literarisch gestalteter Text wahrgenommen, als „Werk voll innerer Bewegung und eigener erzählerischer Kunst[5]. In Bezug auf die Frage nach dem kompositorischen Aufbau dieses kleinsten Evangeliums besteht weithin Konsens darin, dass zwischen Mk 10,52 und 11,1 eine Zäsur gegeben ist.[6] Ab Mk 11,1 wird aufgrund der neuen Lokalisierung „Jerusalem“ generell mit einem neuen Buchabschnitt gerechnet. Der Erzählung Mk 10,46-52, der sog. Bartimäuserzählung, kommt als Schlusstext eines Buchteils daher eine besondere Bedeutung zu, auch ungeachtet der Frage, ob Mk 10,46-52 in direkter Beziehung zu Mk 8,22-26 als Rahmen gedacht ist.

An vier Stellen zeigt sich der Abschlusscharakter von Mk 10,46-52 in ganz besonders eindrücklicher Weise, in einer Weise, die den von Buber und Rosenzweig beschriebenen literarischen Techniken präzise entspricht: Die Verknüpfung von Mk 10,46-52 mit Mk 10 insgesamt verläuft über das folgende Leitwortsystem:

1)         Zu beachten ist zunächst die Verknüpfung zwischen 10,48 und 10,13 über das Verbum έπιτιμάω („anfahren, tadeln, schelten“). In derselben Weise wie sich die Jünger gegenüber den Kindern verhalten, verhält sich die Menge gegenüber Bartimäus; der aufmerksame Leser, die Leserin ahnt, dass auch hier Jesus einschreiten wird: „Wieder ist das έπιτίμάν ein unrechtmäßiger Übergriff.“[7]

2)         Die Frage Jesu „Was willst Du, dass ich dir tun soll? in Mk 10,51 ist auffällig, weil sie “eigentlich überflüssig [ist], denn in anderen Zusammenhängen weiß der markinische Jesus ohne explizite Aufforderung, was kranke Menschen, die sich an ihn wenden, von ihm erwarten.“[8] Gerade ihre Auffälligkeit aber ist wichtig für ihre Wirkung, sie erinnert an die Frage an die Söhne des Zebedäus aus Mk 10,36: „Was soll ich für euch tun?“ Diese deutliche unübersehbare Parallelität zwischen 10,36 und 10,51 setzt unmittelbar das Verhalten des Bartimäus in ein Verhältnis zum Verhalten der Jünger.

3)         In Mk 10,23-31 fand sich im Anschluss an die Episode von der Begegnung zwischen dem reichen jungen Mann und Jesus (Mk 10,17-22) eine ausführliche „Nachreflexion mit den Jüngern“[9]. Sehr deutlich wird das Entsetzen der Jünger über Jesu Worte geschildert (10,24), das Gespräch gipfelt in dem Ausruf der Jünger „Und wer kann gerettet werden“ (10,26). In Mk 10,52 nun, am Ende der Begegnung zwischen Bartimäus und Jesus heißt es: „dein Glaube hat dich gerettet“. Liest man Markus nicht perikopenweise, sondern kontinuierlich im Textzusammenhang, ergibt sich ein unmittelbarer Bezug, exakt so, wie es Buber und Rosenzweig vielfach für Texte des Alten Testaments aufgezeigt haben: „Zwischen Stelle und Stelle, also zwischen Stadium und Stadium der Geschichte ist eine Beziehung gestiftet“.[10] Glaube als ein „vertrauendes sich Einlassen darauf, daß es nicht mehr die der Gottesherrschaft entgegenstehenden Mächte sind, welche die Wirklichkeit bestimmen“[11] kann auch ein reiches Kamel durch ein Nadelöhr zwingen.

4)         Wenn schließlich 10,52 mit der Notiz endet, dass Bartimäus von nun an Jesus „auf seinem Weg“ (nach) „folgt“ (vgl. 10,21!), dann wird unmittelbar angespielt auf 10,32, die Notiz vom Vorausgehen Jesu auf seinem Weg und von der Angst der Jünger vor der Nachfolge.

Die Erzählung 10,46-52 bereitet, wenn sie isoliert gelesen wird, eine Reihe von Schwierigkeiten, beginnend bei der Frage der Gattungsbestimmung. Wird sie in ihrem Kontext gelesen, lösen sich viele Probleme. Liest man Markus im Zusammenhang von Markus 10 wird der symbolische Hintersinn der Blindenheilung aufgrund der Stichwortverknüpfungen unmittelbar erkennbar. Die Botschaft ist, wie Buber formuliert hat, `in die Gestaltung eingedrungen`, Soteriologie („wer wird wie gerettet?“) wird narrativ vermittelt und die Frage nach der Rettung erzählerisch beantwortet. Bartimäus erscheint als Gegenfigur zur ver­sagenden und verzagenden Jüngerschar, als Prototyp des allein durch Glauben Geretteten, als Figur der Ermutigung für die Leser bzw. Ersthörer des Evangeliums, die sich eben nicht in unmittelbarer Nachkommenschaft der Jünger befinden, die hier aber lernen, dass auch der Sohn eines Timäus zur Nachfolge fähig sein kann, hat er nur Glauben.

Gekürzte und überarbeitete Fassung von: Nauerth, Thomas: Wer kann gerettet werden? (Mk. 10,26) Eine soteriologische Frage und ihre narrative Auflösung in Mk 10,46-52. In: Hotze, Gerhard / Spiegel, Egon (Hg.): Verantwortete Exegese. Franz Georg Untergaßmair zum 65. Geburtstag (Vechtaer Beiträge zur Theologie Bd. 13) Berlin 2006. 87-92

EXKURS       Warum heißt Bartimäus eigentlich Bartimäus?

Ein Erzähler, der wie Markus, seine Stichworte so klug zu setzen versteht, dem ist auch zuzutrauen, dass er Namen bewusst zu wählen versteht. Der Name Bartimäus fällt in mehrfacher Hinsicht auf, zunächst einfach deshalb, weil Namen in Heilungsgeschichten nicht häufig sind, sodann aber auch stilistisch, denn Markus „pflegt (…) fremde Namen zu übersetzen, indem er ein „das ist“ vor die Übersetzung stellt (…) In Mk 10,46 aber geht die Übersetzung „der Sohn des Timaios“ dem Namen „Bartimaios“ voran. Dazu kommt, daß der Name „Timaios“ unerklärt ist. Den aus dem platonischen Dialog bekannten Namen Timaios wird man hier kaum erwarten dürfen.“[13]

Dieser Dialog „Timaios“ galt in den ersten Jahrhunderten christlicher Zeitrechnung als Platons berühmtestes Werk, das der gebildeten griechischen wie römischen Öffentlichkeit durchaus vertraut war. Warum also soll man eine Anspielung „hier kaum erwarten dürfen„? Müsste man nicht im Gegenteil begründen, wieso Markus von einem „Sohn des Timaios“ spricht, und dabei nicht auf diesen platonischen Dialog anspielen will? Was Markus mit solcher Anspielung genau gewollt hat, ist heute natürlich schwer zu fassen, wir kennen sein Zielpublikum dazu zu wenig. Vielleicht waren unter den anvisierten Lesern und Leserinnen des Markus auch gebildete Heiden, durch griechische, platonische Philosophie gebildete Heiden, die sich in einem ganz direkten Sinne als „Söhne [= Leser/Leserinnen] des Timaios“ verstanden haben!? Interessant ist auf jeden Fall, dass in diesem Dialog und zwar genau in der großen Rede des Timaios auch Blindheit, also das Schicksal des Bartimäus, thematisiert wird. Es heißt dort:

Die Sehkraft nun ist nach meiner Ansicht die Urheberin des größten Nutzens für uns geworden (…) und dadurch erst sind wir zur Philosophie vorgedrungen, welche das größte Gut ist, was dem sterblichen Geschlecht als eine Gabe der Götter zuteil ward und jemals zuteil werden wird. So führe ich denn nur dies als das größte unter den Gütern an, welche von den Augen herstammen; denn wozu brauchten wir noch alle übrigen, die von geringerer Art sind, herzuleiern, die ja jedermann kennt und deren Verlust durch Erblindung doch nur der Nichtphilosoph mit eitler Klage beweint!“[14]

„Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg.“ (Mk 10,52) Bartimäus gewinnt durch seine wieder gewonnene Sehkraft eine Lebensperspektive, indem er dem ´größten Gut, was dem sterblichen Geschlecht als eine Gabe der Götter zuteil ward und jemals zuteil werden wird` auf seinem Weg folgen kann.


[1] Die Schrift. Aus dem Hebräischen verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. 4 Bde. Stuttgart 2002 bzw. Gütersloh 1997. Vgl. zur exegetischen Debatte im Hintergrund dieser Übersetzung Buber, Martin: Werke Bd. II. Schriften zur Bibel, München/Berlin 1964 bzw. Rosenzweig, Franz: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften IV. Sprachdenken 2. Band: Arbeitspapiere zur Verdeutschung der Schrift (hg. V. Rachel Bat Adam), Dordrecht 1984.
[2] Vgl. zu diesem Prinzip vor allem die Studie von  Illmann, Karl-Johan: Leitwort–Tendenz–Synthese. Programm und Praxis in der Exegese Martin Bubers, Abo 1975.
[3] Buber, Martin: Die Sprache der Botschaft (1936) In: Buber, Martin: Werke Bd. II 1095-1109.1096
[4] Rosenzweig, Franz: Das Formgeheimnis der biblischen Erzählungen. In: Der Kunstwart 41 (1928) 286-296 ( = Kleinere Schriften, Berlin 1937, 167-181,173)
[5] So Kertelge, Karl: Das Markusevangelium (Neue Echter Bibel Bd. 2), Würzburg 1994, 10.
[6] Vgl. zur kontroversen Frage des Aufbaus nur Limbeck, Meinrad: Art. Markusevangelium, in: NBL Bd. II 719-723 (I. Teil: 1,16-3,12; 3,13-6,6a; 6,6b-8,26; II. Teil: 8,27-10,52; 11,1-13,37; 14,1-16,8) und Dormeyer, Detlev: Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener (SBB 43) Stuttgart 2002, 163 (konzentrische Struktur: 1,1-15 / 1,16-8,26 / 8,27-10,52 / 11,1 – 15,47 / 16,1-8).
[7] So Stauffer, Ethelbert: Art. Έπιτιμάω, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Bd. II, Stuttgart 1935, 620-623,621
[8] So Dechow, Jens: Gottessohn und Herrschaft Gottes. Der Theozentrismus des Markusevangeliums, Neukirchen-Vluyn 2000, 113.
[9] Kertelge, Karl: Das Markusevangelium, 101
[10] Buber, Martin: Leitwortstil in der Erzählung des Pentateuchs (1936) In: Buber, Martin: Werke Bd. II 1131-1145.1133.
[11] Dechow, Jens: Gottessohn und Herrschaft Gottes, 293.
[13]  Haenchen, Ernst, Der Weg Jesu. Eine Erklärung des Markus-Evangeliums und der kanonischen Parallelen, Berlin 1966, 371.
[14] Zitiert nach http://www.zeno.org/Philosophie/M/Platon/Timaios