Geheimbund Amos Kapitel 4

Bibel & …. Literatur

Der Geheimbund

Die Sonne steht tiefer am Himmel. „Wir müssen aufbrechen“, sagt Nebat, „die Schafe müssen zurück zum Pferch, nur dort haben sie auch die Nacht über Sicherheit. Jetzt fallen sogar die Schakale über uns her, das hab ich wirklich noch nicht erlebt.“ Er schüttelt gedankenverloren den Kopf. Dann ertönt ein Pfiff, und Mensch und Tier setzen sich in Bewegung.
Schnell ändert sich die Landschaft. Das Grün wird weniger, und bald hören auch die Bäume auf, nur noch vereinzelt sieht man Maulbeerbäume. Dazwischen wieder viel Erde, Geröll, Steine, einige wenige Pflanzen wachsen noch, vieles sieht braungebrannt und vertrocknet aus. Nur die Dornensträucher sind überall zu finden.
Das Gehen tut gut, es beruhigt die Gedanken. Es hat für Rebecca schon etwas Normales, das ruhige Gehen, die Stimme von Nebat „Kommt, meine Schafe, kommt, kommt…“. Es tut gut, sich dem Hirten anzuvertrauen, er weiß schon den Weg. Und so etwas Beruhigendes braucht Rebecca jetzt, denn der Überfall der Raubtiere hat ihre alte Wut wieder aufwachen lassen, ihre Wut auf Daniel, der wie ein Raubtier in dem Land umherzieht und schon so viele „gefressen“ hat.
Wie gern hätte Rebecca heute auf ihn eingeprügelt und nicht nur auf den Schakal.

„Was war das für ein Lied, das du an der Quelle gesungen hast?“ fragt Nebat. Er geht neben ihr. „Kennst du es nicht?“ meint Rebecca, „wir singen doch jede Woche am Schabbat eines der Psalmlieder. Dieses mag ich gern, ich habe es zuerst bei den Opferaltären von den Priestern gehört.“ „Ich komme nicht zu den Altären. Auch am Schabbat muss ich auf die Tiere aufpassen.“ „Aber Nebat! Am Schabbat soll niemand arbeiten – nicht einmal die Sklaven. Kannst du die Schafe nicht alleine lassen?“ „Rebecca! Wie stellst du dir das vor? Du hast doch heute gesehen, was passieren kann. Der Ewige möge mir gnädig sein, wenn ich so über sein Gesetz rede, doch die Tiere kann ich nicht alleine lassen und zu den Versammlungen kann ich nicht kommen. Deswegen will ich das Lied ja gerne von dir lernen.“ „Ich kann es auch nicht ganz sicher“, meint Rebecca, „aber ich habe gehört, dass es Worte von König David sind. Und am liebsten singe ich:
Herr, deine Güte reicht soweit der Himmel ist// und deine Wahrheit reicht, soweit die Wolken wandern. // Herr, du hilfst Menschen und Tieren!
Wie köstlich ist deine Güte. // Alle werden satt von den Gütern deines Hauses, // du tränkst sie mit Wonne

Siehst du, Nebat, darum ist mir das eingefallen an der Quelle, weil es Tränken und Wonne heißt und ich für einen Moment alles Schlimme vergessen konnte. Und so geht es weiter:
Du tränkst sie mit Wonne, bei dir ist die Quelle des Lebens, in deinem …….“
Rebecca schweigt.
„Dein Lied gefällt mir gut. Warum singst du nicht weiter?“ fragt Nebat.
„Das sagst du so einfach. Du gehst hier mit deinen Schafen ohne Gefahr durch die Gegend. Aber ich, ich bin eine Verfolgte, ein geflohene Sklavin. Da ist nichts mit Wonne.“ Urplötzlich hat Rebecca wieder eine tiefe Traurigkeit ergriffen. Warum ist alles nur so ungerecht? Nebat hat gut reden!
„Es stimmt nicht, dass ich ohne Gefahr durch die Gegend laufe. Was meinst du, was passiert, wenn die Häscher des Daniel jetzt auftauchen?“
Rebecca schweigt. „Hör zu“ fährt Nebat fort, „es sind trotzdem gute Worte, die König David da gesprochen hat, genauso wie die Worte von Amos. Sie sind wahr, auch wenn du sie im Augenblick nicht sagen kannst. Aber jetzt sind wir beim Pferch angelangt. Komm, Rebecca, du kennst dich schon ein wenig aus. Hilf mir, dass die Tiere gut versorgt sind.“
Da ist wieder die Rede von diesem Amos gewesen. Rebecca will mehr darüber erfahren, doch jetzt ist nicht die Zeit dazu. Die Tiere werden in den Pferch gerufen, manche müssen noch gemolken werden. Erst jetzt entdeckt Rebecca, dass auch im Pferch eine kleine Quelle ist. Doch sie hat nichts von der Schönheit der anderen Quelle. Es ist nur eine sumpfige Ecke, in der alles niedergetrampelt ist, was einmal gewachsen war.

Als sie später an einem kleinen Feuer sitzen – das ist der beste Schutz gegen Raubtiere, sagt Nebat – holt er aus den Tiefen seiner Tasche ein kleines Stück Käse, eingewickelt in einige große Blätter. Er wühlt weiter in seiner Tasche und schüttelt dann den Kopf: „Mehr zu essen habe ich nicht. Das Brot ist alle.“ Erschrocken schaut Rebecca ihn an: „Kein Brot? Wie wirst du Neues bekommen? Wenn du Körner hast, kann ich schnell etwas backen. Oder können wir morgen in ein Dorf ziehen und etwas kaufen?“ „Nein, Rebecca, wir haben heute nichts und werden auch morgen nichts haben. Geld zum Kaufen habe ich auch nicht – woher auch? Ein paar Tage werden wir nur von Milch und Käse leben.“ „Und dann?“
„Wenn der Mond in ein paar Tagen wieder voll ist, werde ich zu Daniel ziehen. Er überprüft dann, ob alles in Ordnung ist mit der Herde. Und wenn das so ist, dann bekomme ich einen Beutel mit Weizen und manchmal auch ein paar Linsen dazu. Das ist dann mein Lohn und damit muss ich auskommen, bis der Mond wieder voll geworden ist. Nimm ein Stück Käse. Morgen werden wir etwas Thymian holen – da hinten am Hang ist ein ganzes Feld – dann schmeckt er wieder anders. Jetzt ist es zu dunkel dazu.“
Gedankenverloren nimmt Rebecca sich ein Stück Käse. Es schmeckt eintönig, das ist wahr, aber das ist nicht weiter schlimm. Ihr wird plötzlich wieder klar, dass auch Nebat einer der verarmten Menschen ist, die kaum genug zum Essen haben. Und das wenige, das er hat, teilt er noch mit ihr. Ihr tun die Worte leid, die sie vorhin gesprochen hat.
„Wie soll es nur weitergehen mit mir?“ fragt Rebecca, „Nebat, ich kann doch nicht immer bei dir bleiben. Oder doch?“ Nebat schüttelt den Kopf. „Nicht immer. Ein paar Tage schon. Aber länger reicht das Essen nicht. Und du bist hier auf Dauer auch nicht sicher vor Daniel.“ „Aber dann? Wo kann ich bleiben? Ich will nicht als Bettlerin in der Gosse enden oder als Hure mich den Männern anbieten. Gibt es keinen Platz für mich? Ach, es ist fürchterlich.“ „Es sind viele, die so fragen. Die Bettler würden auch lieber arbeiten, die Tagelöhner hätten gerne ihr Stück Land wieder. Jammere nicht! Lass uns lieber überlegen, wie es bei dir weitergehen kann.“ „Es ist sinnlos. Der Ewige möge mir helfen. Ich weiß nicht weiter.“ Die Traurigkeit in Rebecca wird so stark, dass ihr der Magen schmerzt. Sie kann nicht weiteressen.
„Der Ewige – gepriesen sei sein Name – ist nicht dazu da, um unsere Arbeit zu tun. Wir müssen selber etwas tun. Aber du musst es nicht alleine machen. Ich kenne da ein paar gute Leute… Du könntest zum Bäcker gehen … „Wohin? Wer ist das?“ „Er trifft sich mit einigen Leuten, die auch verarmt sind. Ein geheimes Treffen eben. Wie soll ich davon erzählen, wo es doch geheim bleiben soll. Niemand darf davon erfahren.“
„Von mir erfährt niemand etwas. Ich kann schweigen. Aber wenn du irgendetwas weißt, was mir helfen kann …“
„Es geht um den Geheimbund Amos..“ Nebat macht eine große Pause. Er kämpft mit sich selber, während er gedankenverloren den Käse zwischen seinen Fingern zerdrückt. „Nun gut. Ich will dir davon erzählen:
Wir sind so eine kleine Gruppe, vielleicht 20 Leute. Wir erzählen uns immer wieder, was wir von Amos gehört haben, von seinem Satz „Wehe euch, die ihr die Armen unterdrückt und die Elenden im Lande zugrunde richtet.“
Diese Worte sagen wir uns immer wieder in der Gruppe. Wir erzählen uns, was wir von Amos wissen. Es gibt immer neue Geschichten von ihm. Und es tut so gut, seine Worte zu hören. Dann denken wir: Nicht wir sind die Verachteten. Uns schaut der Ewige freundlich an. Die Reichen, die die Armen unterdrücken, das sind in Wahrheit die Verachteten.“
„Auf solche Gedanken bin ich noch nie gekommen. Meinst du wirklich, dass das stimmt? Ich fange schon selber an, mich zu verachten.
„Selbst wenn du eine Bettlerin bist, bei Adonai bist du deshalb nicht abgeschrieben. Wer die Elenden im Lande zugrunde richtet, der ist in Wahrheit zu verachten.“
„Aber was hat das mit dem Geheimbund zu tun?“
„Pass auf! Alleine kommen wir nicht auf solche Gedanken. So hast du eben selber gesagt. Und deshalb haben wir uns eben zusammengetan, eine Gruppe von Freunden des Amos. Wir treffen uns einmal im Monat. Daniel darf nicht davon erfahren.“
„Warum das nicht?“
„Daniel und all die anderen reichen Kumpane wollen uns lieber klein haben, verzweifelt und jammernd. Selbstbewusste Leute könnten ihnen gefährlich werden.“
„Weiß Amos etwas von Euch?“
„Er kennt unsere Gruppe nicht. Einzelne haben ihn mal getroffen, na klar, sonst könnten sie ja nichts erzählen.“
„Gehst du auch zu den Treffen?“
„Selten. Du weißt, ich kann die Tiere nicht allein lassen. Aber manchmal kommt jemand von ihnen und passt auf die Schafe auf. Wir treffen uns ja nachts, da sind die Tiere im Pferch.“
„Und wer gehört alles zum Geheimbund dazu?“
„Ein Bäcker. Man kann nicht sagen, dass er ganz verarmt ist, aber viel verdient er auch nicht. Wer kann schon noch Brot bei ihm kaufen? Und sonst sind da noch ganz viele, denen es früher besser ging und die heute nichts mehr haben. Leute, die vor drei Jahren noch Land hatten. Heute sind sie Tagelöhner, arbeiten höchstens für einen Hungerlohn. Ungefähr zwanzig sind wir. Und dann ist da sogar noch ein Priester dabei. Nicht einer von Beth-El, vom großen Heiligtum, die kriegen von den Reichen sowieso zuviel zugesteckt. Einer von einem kleinen Dorfheiligtum, der weiß noch, wie es aussieht bei den Armen. Er hält Amos für einen großen Propheten des Ewigen.“
„Und woher erfahrt ihr etwas von Amos?“ „Ich sage ja, die meisten Mitglieder im Geheimbund wandern umher. Sie suchen ja alle ständig Arbeit. Nur auf der Straße sitzen, jammern und betteln, das will niemand mehr. Also ziehen sie umher, zu zweit und zu dritt. Dabei hört man viel. Und so mancher hat Amos direkt gesehen.“ „Und Amos zieht die ganze Zeit durch Israel?“ fragt Rebecca. „Ich bin ihm nicht begegnet. Aber er zieht wohl noch immer umher, und ich bin mir sicher, mancher möchte ihn am liebsten erschlagen. Aber das dürfen auch die Leute mit viel Geld nicht ungestraft tun.“
„Ich möchte auch zum Geheimbund Amos.“
Da schaut Nebat Rebecca lange an: „Versprich mir, Daniels Leuten niemals davon zu sagen.“
„Ich schwöre es!“ sagt Rebecca und hebt dabei ihre rechte Hand.
„Hör zu! Du gehst am besten von hier nach Osten zum Heiligtum nach Beth-El. Auf den großen Straßen bist du als Mädchen am sichersten. Von dort gehe die Straße nach Norden. Später, hinter Sichem, biegst du ab auf die Straße in Richtung Samaria. In dem ersten kleinen Dorf steht gleich rechts das Haus von Bäcker Isai. Dort treffen wir uns immer, und zwar am dritten Tag nach dem Vollmond.“
„Da bin ich schon einmal gewesen, als wir nach Sichem zogen. Den Bäcker kenne ich!“
„Er würde dich trotzdem nicht zu dem Treffen lassen. Es gibt einen Geheimsatz, den du sprechen musst, wie ein Schlüssel kann er dir die Tür zu unserer Versammlung öffnen.“
„Und wie geht dieser Satz? Bitte sage es mir.“
Da beugt sich Nebat vor zu Rebeccas Ohr, und obwohl ja niemand in der Nähe ist, flüstert er:
Weh euch, die ihr die Armen unterdrückt und die Elenden im Land zugrunde richtet.
Mit diesen Worten wirst du eintreten können.“