Geheimbund Amos

Bibel & …. Literatur

Kapitel 2

Rebeccas Geschichte

Ganz  in  der  Nähe  ist  der  Pferch  für  die  Schafe,  ein  mit  dornigem  Gestrüpp eingefasstes Stück Land. Der Schäfer geht hinein, er ruft und die Schafe folgen ihm. Einigen Tieren streicht er über den Kopf, bei anderen steht er länger, um sie  zu  melken.  Dann  geht  er  hinaus,  verschließt  den  Eingang  mit  etwas dornigem Strauchwerk.

Die Tiere sind versorgt, die Schafe haben sich zur Ruhe gelegt. Es ist dunkel geworden,  nur  ein  kleines  Feuer  brennt.  Der  Schäfer  hat  seinen  Beutel geöffnet,  er  hat  ein  Brot  herausgeholt  und  durchgebrochen.  Käse  liegt  auf einem Stein daneben, sogar ein Becher mit Milch steht da. Mit hungrigen Augen schaut Rebecca. „Nimm  dir,  du  wirst  Hunger  haben“  ,  sagt  der  Schäfer,  „viel  ist  es nicht, aber heute reicht es für uns. Setz dich lieber nicht zu dicht ans Feuer, gehe hier zum Maulbeerbaum. Falls die Leute des Daniel doch noch einmal kommen, bist du nicht  gleich  zu  sehen.  Aber  ich  glaube  nicht,  dass  wir  mit  ihnen  rechnen müssen, jetzt ist es zu dunkel.“

Rebecca nimmt Brot und Käse und setzt sich unter den Baum. Was ist das für ein Mann, der ihr so freundlich begegnet? „Wer bist du?“ fragt sie schließlich, „Wer bist du, dass du mir hilfst, obwohl du mich doch gar nicht kennst?“ „Ich bin Nebat, der Schäfer. Ich bin im Dienst des reichen Daniel. Ihm gehören all  die  Schafe.  Wenn  ich  auf  sie  gut  aufpasse,  bekomme  ich  Essen  –  Milch, Käse, Brot.“ Er lacht leise vor sich hin. „Ich kenne Daniel und seine Leute. Du brauchst mir nicht zu erzählen, was für einer das ist. Als ich dich heute morgen laufen sah und dann die drei hinterher, da wusste ich schon, dass du in großen Schwierigkeiten stecken musst. Das mit dem Versteck hast du gut gemacht. Ich kenne die kleine Höhle. Ein wunderbares Versteck. Eins meiner Schafe ist da mal hineingerutscht, da habe ich lange gesucht.“  Nebat lacht leise in sich hinein, dann fährt er fort:   „Na ja, wie ich dich heute beobachtetet habe, da habe ich gedacht, ich sollte aufpassen,  dass  dir  nichts  Schlimmes  passiert.  Allein  kommst  du  wohl  nicht weiter. Du solltest es als Mädchen auch nicht alleine versuchen. Hast du denn niemanden, wo du hinkannst?“

Rebecca schüttelt den Kopf. Nein, sie weiß auch keinen Ort, wo sie vor Daniel sicher ist. Sie weiß auch nicht, wie es weitergehen soll mit dieser Flucht, wie sie sich alleine durchschlagen soll, ein achtjähriges Mädchen, allein, ohne Schutz. 

„Magst du mir erzählen, wieso du weggelaufen bist?“ fragt Nebat. Da beginnt sie zu erzählen: „Ich bin Rebecca, Tochter des Schreibers aus unserem Dorf. Meine Mutter lebt nicht  mehr,  ich  war  mit  dem  Vater  allein  im  Haus.  Er  war  der  Schreiber,  der einzige im Dorf, der lesen und schreiben konnte. Wann immer ein Kaufvertrag oder  so  etwas  gemacht  werden  musste,  ist man zu ihm gekommen. Er hatte das Schreibwerkzeug und die Tontafeln. Auch bei den Gerichtsverhandlungen ist er immer gewesen, da gab es oft etwas zu schreiben. Und ich hatte bei ihm das Schreiben gelernt. Er war also doch nicht der Einzige, der schreiben konnte, ich hatte es auch gelernt. Auch wenn ich ein Mädchen bin  und  nie  als  Schreiberin  arbeiten  werde.  Ich  hatte  ihn  als  kleines  Kind gebeten, dass er es mir zeigt, und so bin ich vielleicht das einzige Mädchen in Israel, das lesen und schreiben kann. Doch ich will ja erzählen, wie alles anfing: Vor zwei Jahren war ein Hungerjahr. Das  weißt  du  ja  sicherlich.  Erst  war  dieses  Erdbeben,  wo  so  viele  Hütten zusammengefallen waren. Und dann, viel schlimmer: Die Heuschrecken waren über die Felder hergefallen und hatten alles kahl gefressen. Viele Bauern sind damals nicht über die Runden gekommen – keine Ernte, kein Saatgut, kein Brot. Nur dem Daniel ging es unverändert gut. Der war schon immer steinreich. Und als  die  Bauern  nichts  zu  essen  hatten,  da  hat  er  ihnen  Geld  geliehen.  Zu unmöglichen  Zinsen.  Mein  Vater  hat  es  alles  aufgeschrieben,  die  ganzen Verträge über die Darlehen. Jeden Abend hat er mir ganz empört davon erzählt. Geholfen  hat  es  den  Bauern  aber  nicht.  Zwar  haben  sie  Brot  und  Saatgut gekauft,  doch  im  nächsten  Jahr  war  die  Trockenheit.  Da  ist  auch  nichts  gewachsen.  Sie  konnten  Daniel  nichts  zurückzahlen.  Wieder  kein  Brot,  kein Saatgut. Und Daniel bestand auf der Rückzahlung, er hatte ja die schriftlichen Verträge. Die Bauern mussten schließlich ihr Ackerland verkaufen. Was ist ein Bauer ohne Ackerland? Ein Tagelöhner, ein Bettler, mehr nicht. Kennst du sie, Nebat,  die  ganzen  Bettler  in  unserem  Dorf,  den  Mehalalel,  den  Jared,  den Enosch und wie sie alle heißen? Alle waren sie einmal stolze Bauern gewesen, alle mit einem Stück Land, das ihre Familie ernährte. Mein  Vater  war  Schreiber.  Er  musste  diese  ganzen  Verträge  aufschreiben. Ganz  elend  ist  er  von  diesen  Gerichtsverhandlungen  wiedergekommen.  «Er nimmt  unmögliche  Zinsen,«  so  sagte  er  immer,  «das  Doppelte  muss  man zurückzahlen.  Wenn  das  nicht  geht,  muss  man  alles  verkaufen.  Alles!  Den Acker. Das Haus. Am Schluss werden die Kinder verkauft. Als Sklaven.« 

Der Daniel wurde immer reicher. Kaum besaß er das ganze Land, da gab es ein gutes Erntejahr. Als ob der Ewige im Himmel seinen Reichtum noch größer machen wollte. Ich  habe  es  erlebt  bei  Dara,  meiner  älteren  Freundin,  mit  der  ich  als  Kind gespielt habe. Auch ihre Familie verarmte, und sie wurde als Sklavin verkauft. Die ganze Dreckarbeit im Haus des Daniel muss sie machen. Weißt du, welche Dreckarbeit?  Neulich traf ich sie wieder auf dem Markt, mit verheulten Augen, geschwängert von diesem reichen Kerl, ehrlos für ihr ganzes Leben.

Eines Tages hat mein Vater die Verträge nicht mehr geschrieben. «Du treibst das  ganze  Volk  ins  Elend!«  so  hat  er  Daniel  auf  einer Gerichtsver- handlung angeschrieen,  «da  kann  ich  nicht  mehr  mitmachen.  Dir  gehört  alles  und  die anderen liegen im Dreck.« Genützt  hat  es  nichts.  Im  Gegenteil,  als  Schreiber  war  er  nun  nicht  mehr gefragt. Daniel ließ extra einen aus der nächsten Stadt holen, von weit her. Und mein  Vater  hatte  keine  Arbeit  mehr.  Ich  fand  es  ja  gut,  dass  er  was  gegen Daniel gesagt hatte, aber wovon sollten wir nun leben? Wir konnten doch nichts anderes als schreiben. Auch unsere Freunde waren verarmt und konnten nicht helfen.  Erst  haben  wir  ein  paar  Sachen  aus  dem  Haus  verkauft,  aber  das reichte  nicht  lange.  Schließlich  ist  mein  Vater  den  schweren  Weg  zu  Daniel  gegangen. Nur hier konnte er Geld bekommen. Und tatsächlich hat Daniel ihm etwas geliehen, mit den üblichen Zinsen. Es hat aber wieder nicht gereicht. Das Geld war bald aufgebraucht. Und keiner wollte die Schreibkunst meines Vaters in Anspruch nehmen. Bis nach Samaria war er gegangen, um Aufträge zu bekommen. Wahrscheinlich hatte sich seine Weigerung  überall  herumgesprochen,  und  so  einen  wollte  man  nicht  mehr dabeihaben. Irgendwann hat er sogar sein Schreibwerkzeug verkauft. Was für ein  hoffnungsloser  Fall:  ein  Schreiber  verkauft  sein  Schreibwerkzeug  für  ein paar Brote.

Dann ist er wieder zu Daniel gegangen. «Ich kann nicht zurückzahlen. Gib mir Arbeit,  ich  mache  alles.  Irgendwie  muss  ich  arbeiten  können,  oder  wir verhungern.« Daniel hat nur gelacht. «Verhungern musst du nicht. Du hast doch eine Tochter. Sie ist hübsch und nett. Verkaufe sie, ich nehme sie bei mir auf. Dann bist du deine Schulden los.« So hat mein Vater es mir erzählt. Gestern. Ja, gestern ist es gewesen, da habe ich das gehört.“ Rebecca schweigt. Das Feuer ist niedergebrannt. Nur noch die Glut wirft ein geheimnisvolles Licht. Rebecca verbirgt ihr Gesicht in den Händen. „Als du das von deinem Vater gehört hast, bist du weggelaufen. Du willst nicht Sklavin werden?“ fragt Nebat. „Niemals!“  Rebecca  springt  auf.  „Niemals,  hörst  du?  Und  schon  gar  nicht  bei diesem Daniel! Soll es mir so gehen wie Dara?“ Sie schreit es heraus. Bei den Tieren wird es unruhig, die Schafe fangen an, zu meckern. Nebat geht zu ihnen hin, spricht ein paar beruhigende Worte.

„Verzeih!“  sagt  Rebecca,  „es  ist  nicht  gut,  so  zu  schreien.  Aber  glaube  mir, niemals gehe ich zu dem Daniel. Nur mit einem Messer in der Hand.“ Sie setzt sich wieder hin, diesmal dicht an die Glut. Es ist kalt geworden. „Und dann bist du gestern weggelaufen?“ fragt Nebat. „Nein,  erst  heute  morgen.  Ich  wollte  meinen  Vater  überreden,  dass wir beide fliehen, weit weg, nach Damaskus oder noch weiter. Die ganze Nacht haben wir geredet. Keiner ahnte, wie dicht die Gefahr war. Im Morgengrauen sahen wir die drei Häscher von Daniel dann plötzlich auf unser Haus zukommen. Ich bin durch  das  Fenster  aus  dem  Haus  rausgesprungen  und  unter  einen  Busch gekrochen. Ich hörte sie drinnen reden. «Deine Tochter entgeht uns nicht«. Sie haben ihn geschlagen. Da bin ich losgelaufen. Ich hatte einen guten Vorsprung und kann gut laufen. Aber ich wusste, dass sie mir dicht auf den Fersen sind. Irgendwann habe ich das Versteck gefunden. Den Rest der Geschichte kennst du ja. Aber wie es weitergehen soll, das weiß ich auch nicht.“

„Morgen  werden  sie  wiederkommen,“  sagt  Nebat,  „wahrscheinlich  wieder  im Morgengrauen. Wo willst du dann sein?“ „Weg, nur weg hier. In welche Richtung kann ich am schnellsten weg? Soll ich sofort los?“ „Bleib sitzen, Rebecca. Nirgends bist du so sicher wie hier. Geh zu den Schafen in den Pferch. Er ist mit einem Dornengestrüpp begrenzt und gleich hier vorne in der Ecke kann man in die Dornen hineinkriechen. Ich habe mal eine kleine Höhle hineingebaut. Wenn du drinnen bist, sieht dich niemand. Du kannst auch in das Versteck oben bei den Felsen gehen. Aber hier ist es wärmer, die Glut gibt  noch  Wärme  ab,  und  die  Schafe  liegen  auch  ganz  dicht bei dir. Da wird dich niemand finden, heute Nacht nicht und morgen auch nicht.“

Rebecca  steht  auf.  „Wie  kann  ich  dir  nur  danken  für  all  die  Hilfe,  die  du  mir gibst? Sogar ein Versteck ist bereitet. Als ob du mich erwartet hättet.“ „Vielleicht“, sagt Nebat und lächelt.

aus: Jochem Westhof, Geheimbund Amos, Lahr 2006