„Geh die zweite Meile ! „

Materialien zu biblischen Texten

Eine aktuelle Sendung von Radio Roma, heute live aus Palästina

Interviewer: Hallo! Wir berichten heute direkt aus Kafarnaum in Galiläa. Wir sind hier auf dem Markt­platz, um mehr über das alltägliche Leben in Palästina im ersten Jahrhundert zu lernen. Auf dem Markt werden heute eine Vielzahl an köstlichen Früchten  angeboten und Frauen strömen am Brunnen zusam­men, um Wasser für das Kochen der heutigen Mahl­zeiten zu holen. In diesem Moment wimmelt der Markt vor Menschen.

[Hintergrundgeräusche: Irgendwer brüllt. Viele Leute reden laut durcheinander. Ziegen, Hühner und Esel sind zu hören. ]

Interviewer:  Etwas scheint sich hier anzubahnen, aber wir können noch nicht genau sagen was.  Wir beobach­ten die Situation und halten Sie auf dem laufenden. [Zeit vergeht]. Ich denke nicht, dass wir jetzt ein Interview bekommen, aber wir melden uns später mit einem Update wieder.

[Zwischenmusik]

Interviewer: Wir melden uns zurück aus Kafarnaum. Wir können jetzt ein Interview führen zu der Situation auf dem Marktplatz. Breaking News ! So etwas gab es noch nie. Es scheint etwas äußerst Bemerkenswertes geschehen zu sein. Wir versuchen immer noch, die Ge­rüchte genauer zu bestätigen. Nach jetzigem Stand hat ein ganz gewöhnlicher jüdischer Mann versucht, dass Gepäck eines römischen Soldaten weiter als die gesetz­­lich vorgeschriebene Meile zu tragen. Wir konnten inzwischen aber mit den Beteiligten sprechen.

Und gerade steht neben mir der römische Soldat, dessen Gepäck weiter als gefordert getragen wurde. Soldat, können sie die Geschichte bestätigen? Wir haben gehört, dass sie einen Jüdischer Mann gefragt haben, ihr Gepäck zu tragen und der trug es einfach weiter, als eine Meile geschafft war. Eine Meile extra! Ist das wirklich wahr?

Römischer Soldat: Es stimmt, aber ich habe ihn nicht darum gebeten. Ich fragte ihn: Kannst du mir bitte mein Gepäck tragen? Moment, nein, ich sagte nicht „bitte“, ich verlangte einfach von ihm, dass er mein Gepäck trägt. Ich bewege mich dabei im Rahmen der hier geltenden Gesetze, ich bin ein ehrenhafter Mann, wie Ihnen jeder bestätigen kann. Ich verlangte also mein Gepäck nach einer Meile zurück, aber dieser Verrückte marschierte einfach weiter. Ich versuchte also, ihm das Gepäck abzunehmen. In keiner Weise habe ich ihn gedrängt, dass Gepäck weiter zu tragen! Eine Meile, und das war´s. Aber er hatte seinen eigenen Kopf. Er würde sich mir nicht unterwerfen – aber ich vertrete doch das Gesetz in diesem Land!

Interviewer: Jetzt mal ehrlich… Wie schwer ist ihr Gepäck aktuell? Das Gepäck muss doch bestimmt sehr schwer sein. 70 Kilogramm oder so ähnlich? Das ist sensationell, wenn es stimmt was sie sagen. Wie haben sie darauf reagiert?

Römischer Soldat: Das Gesetz besagt, dass die Bürger Palästinas  das Gepäck eine Meile weit tragen müssen, wenn ich es verlange. Danach fordere ich mein  Gepäck zurück und trage es wieder selbst.

Interviewer: Kommen sie. Sind sie sich wirklich sicher das sie ihn nicht gedrängt haben? Warum sollte er dieses schwere Gepäck weiter tragen, als er musste?

Römischer Soldat: Alles was ich sagen kann, ist, dass ich ihn fragte, mein Gepäck nach römischen Gesetz eine Meile zu tragen. Er war sehr höflich und zuvorkommend. Vielleicht hat er irgendwelche politischen Gründe? Oder was haben sie gehört?

Interviewer: Also, sie sind sich sicher, dass sie ihn nicht gezwungen haben ihr Gepäck weiter als eine Meile zu tragen?

Römischer Soldat: Ich habe ihn zu keinem Zeitpunkt unter Druck gesetzt oder gezwungen, mein Gepäck weiter als eine Meile zu tragen.

Interviewer: Das ist in der Tat eine außerge­wöhnliche und merkwürdige Sache. Ich bin sicher, dass so etwas noch nie zuvor passiert ist.

Römischer Soldat: Das ist richtig. In meinen 20 Jahren als römischer Soldat ist mir so etwas noch nie passiert.

Interviewer: Es ist ein bisschen beschämend oder unangenehm, nicht wahr?

Römischer Soldat: Um ehrlich zu sein, ich war ziemlich geschockt. Ich verstand nicht, warum er das tat. Wa­rum er mein Gepäck tragen wollte, obwohl er nicht musste….

Interviewer: Nun, das ist hier wirklich die Frage. Denken Sie, da war eine versteckte Absicht hinter seiner Aktion?

Römischer Soldat: Ich denke, er wollte mich und die römische Armee zum Narren halten. Ich denke es ist eine freche Tat … er versuchte, uns zu demütigen.

Interviewer: Es scheint, dass sein Plan aufgegangen ist, oder? Jeder spricht heute darüber. Und wir können jetzt mit demjenigen  sprechen, der das Gepäck weiter getragen hat, als er musste. Herzlich Willkommen und Guten Tag!

Jüdischer Mann: Guten Tag.

Interviewer: Wir berichteten, dass sie das Gepäck eines römischen Soldaten weiter, als die eine vorgeschriebene Meile trugen. Ist das richtig?

Jüdischer Mann: Das kann ich bestätigen.  Ja, das stimmt.

Interviewer: Warum haben sie das getan? Ich verstehe das nicht… Worum geht es dabei?

Jüdischer Mann: Ich hatte einfach Lust gehabt, es ein bisschen auszudehnen. Aber zwei Meilen sind für einen Tag genug.

Interviewer: Unglaublich, aber was hatten sie wirklich vor?

[Pause] 

Jüdischer Mann: Ich denke, dass es wichtig ist, das wir, als Bürger dieses Landes, anfangen uns gegen die römischen Besetzer zu wehren. Sie haben die Regel erlassen, dass wir ihr Gepäck für eine Meile tragen müssen, dies ist offensichtlich eine in jeder Hinsicht lächerliche und demütigende Regel. Es hält mich von meiner Arbeit ab und generell von dem, was wir gerade in dem Moment tun. Denn wir müssen die Meile auch wieder zurück laufen. Alles in allem ist die Situation absurd. Ich wollte dies sichtbar machen, indem ich zwei Meilen gehe. Ich habe den römischen Soldaten hoffentlich ziemlich dumm aussehen lassen. Ich verstehe nicht, welches Recht ein Mensch hat, mich zu zwingen sein Gepäck in meinem eigenen Land eine Meile zu tragen – weg von meinem Zuhause und meinem Vieh. Ich verstehe es wirklich nicht.

Interviewer: Wollen sie etwa wirklich sagen, dass sie das aus politischen Gründen getan haben? Sie wissen, welche Konsequenzen das für sie haben kann. Haben sie keine Angst?

Jüdischer Mann: Aktuell fühle ich mich bestärkt. Ich fühle mich gut. Ich bin stolz, dass getan zu haben. Ich wollte sichtbar machen, dass sogar wenn ich selbst dafür in Schwierigkeiten gerate, was sicherlich sein kann, dies nur ein kleiner Teil eines viel umfassen­deren Problems ist, nicht wahr? Ok, gut, ich kann Schwierigkeiten bekommen, weil ich das Gepäck zwei Meilen, statt einer getragen habe… aber wenn ich es nicht getan hätte und nichts gesagt hätte, dann würde ich meine Selbstachtung verlieren. Ich möchte diese ganze Situation sichtbar machen und selbst wenn ich dafür in Schwierigkeiten komme, hoffe ich,  damit andere Menschen zu  ermutigen, ebenfalls  für ihr Menschenrecht aufzustehen.

Interviewer: Das ist eine unglaubliche Tat von einer, wie es scheint, sehr mutigen Person, die doch ansonsten ein ganz normaler Einheimischer ist. Wie befremdlich, das so eine Sache möglich ist! Wir wenden uns nun wieder dem Soldaten zu, um seine Reaktion zu hören.  Römischer Soldat, wie sie im Interview gehört haben, war dies eine politisch motivierte Tat. Der Mann versuchte darauf hinzuweisen, wie ihr das jüdische Volk zwingt in einer wirklich unwürdigen Situation zu leben. Was sagen sie dazu, dass die Menschen hier jetzt die Gesetze hinterfragen und für ihre Rechte  aufstehen?

Römischer Soldat: Es ist eindeutig ein Zeichen mangelnder Loyalität gegenüber unserer guten Regierung dieses Landes. Wenn sie etwas kritisieren wollen, dann können sie einen Brief an das römische Reich schreiben und sie werden in kürzester Zeit eine Antwort erhalten. Wenn es also legale Wege des Protestes gibt, verstehe ich nicht, warum sie auf diese Weise die Situation in ihre eigene Hand nehmen. Das ist inakzeptabel.

Interviewer: Nun, sie sagen Loyalität, aber es fällt uns auf, wenn wir dieses Interview hören, dass das jüdische Volk vielleicht nicht ganz so viel vom Römischen Reich gewinnt wie einige seiner anderen Mitglieder, sie zum Beispiel. Was denken sie darüber? Unsere Quellen berichten, dass jemand namens Jesus von Nazareth vor kurzem in einer Predigt in der Region auf dem Ölberg tatsächlich davon sprach, „die zweite Meile zu gehen“. Können sie sich vorstellen, dass da ein Zusammenhang besteht? Fühlen sie sich dadurch bedroht?

Römischer Soldat: Nun, ich meine, wir haben genau darüber gesprochen. Ich denke, es ist eine echte Bedrohung für die Stabilität und für eine gut funktionierende Herrschaft des Römischen Reiches.  Ich meine, andere werden sich jetzt auf die Worte „Liebe deine Feinde” beziehen. Dies passt nicht wirklich zu unserem Verständnis, wie man eine Nation sichern sollte. Diese radikalen Unruhestifter beschädigen die Stabilität für alle anderen. Die zusätzliche Meile zu gehen ist eine Beleidigung für das Gesetz, das eingeführt wurde, und es stellt die Grundlagen und die Sicherheit der Nation in Frage.

Interviewer: Ich möchte jetzt stärker auf die persönliche Ebene kommen. Es war ein außerordentliches Zeugnis von wirklichem Mut, was heute passiert ist. Wie hat dies ihre Einstellungen zu jüdischen Menschen verändert? Haben sie sich als Mensch verändert durch diese Erfahrung?

Römischer Soldat: Nun, ich meine, wenn ich wirklich ehrlich zu ihnen bin: Ja! Ich bin irgendwie betroffen. Es überraschte mich sehr. Das jüdische Volk hat wirklich einen eigenen Willen. Es hat mich schockiert, dass sie das Gesetz in Frage stellen, und es ist auch ein wenig peinlich. Es beweist, dass das jüdische Volk tatsächlich für sich selbst eintreten kann. Wenn das so weiter­geht, fürchte ich, werden wir in Zukunft mehr davon sehen. Es ist ein Aufruf an unsere eigene Regierung, dass wir auf diese Radikalen achten müssen. Aber wir sind viele und wir sind stark und wir haben die Macht auf unserer Seite. Wir werden mit neuer Kraft zurück­kehren. Ich glaube, wir haben den Charakter dieser Menschen unterschätzt. Der Vorfall hat uns eine andere und neue Seite dieser Gesellschaft gezeigt.

Interviewer: Nun, danke das sie heute bei uns waren. Vielleicht können wir schon bald mit einigen Veränderungen in der Struktur des Römischen Reiches rechnen. Und nun zurück ins Studio…

Bild von Sergei Polikin auf Pixabay

Die kleine Szene “Geh die zweite Meile” verdankt sich archäologischen Ausgrabungen des britischen Zweigs des Internationalen Versöhnungsbund https://for.org.uk/. Vergleiche zum Versöhnungsbund ansonsten http://www.versoehnungsbund.de