Geheimbund Amos

Literatur

Kapitel 1

Das Versteck

Nur weg hier, weg. Atemlos rennt Rebecca den kleinen Pfad bergab. Wenn sie nur niemand sieht. Wenn die Häscher des Daniel sie erst einmal erspäht haben, dann ist alles zu spät. Nur weg hier, bis die Entfernung zwischen ihnen groß genug ist. Bis sie weit weg von ihrem Heimatdorf ist.

 Nie  wird  sie  dorthin  zurückkehren  können.  Doch  daran  darf  sie  jetzt  nicht denken. Nur weg hier. Den ganzen Tag, seit dem Morgengrauen, ist sie auf der Flucht.  Im  letzten  Dorf,  als  sie  kurz  verschnaufen  wollte,  sah  sie  die  drei Verfolger eilig den Weg auf sie zulaufen. Nur im Schatten der Häuser konnte sie weiter. Pfeifend geht ihr Atem. Die Schritte werden müder, sie stolpert. Jetzt geht der Weg  sogar  bergauf.  Sie  merkt,  wie  die  Kräfte  sie  verlassen.  Gibt  es  kein Versteck  hier,  vielleicht  dort  hinten  bei  dem  Felsen  mit  seinem  dornigen Gestrüpp?

Rebecca läuft vom Weg zu den Felsen, zwängt sich durch die Dornen, gehetzt schaut sie umher, biegt das Gestrüpp beiseite – und tatsächlich, wie geschaffen für sie: ein höhlenartiger Unterschlupf im Gestein, mit Dornensträuchern davor. Ein perfektes Versteck. Hat sich auch keine Schlange hier verkrochen? Nein, die Höhle ist leer. Hinein, schnell hinein! Ganz hinten in die Ecke gekauert hockt sie,  dass  kein  Blick  sie  treffen  kann.  Nur  wenn  sie  die  Zweige  ein  bisschen beiseite schiebt, gelingt ihr ein Blick zurück auf den Weg, den sie gerade eben gekommen ist.

Oh  Gütiger  im  Himmel,  da  kommen  sie!  Alle  drei.  Auch  auf  die  große Entfernung sind sie zu erkennen. Wie leicht wäre sie selber entdeckt worden, wenn sie auf dem Weg weitergelaufen wäre. Schnell kommen die drei dichter und dichter. Hilflos liegt Rebecca in ihrem Versteck, reglos hört sie ihre Verfolger näher und näher kommen. Sie reden laut miteinander. Dann werden die Stimmen wieder leiser. Sie sind vorübergegangen.  

Tief atmet Rebecca durch, schließt die Augen. Welch ein Segen ist diese kleine Felsengruppe  für  sie  gewesen.  Welch  ein  Glück,  das  Versteck  genau  im richtigen Zeitpunkt zu finden. Aber noch ist es zu früh, um sich wieder sicher zu fühlen.  Nein,  bis  zur  Dunkelheit  muss  sie  hier  versteckt  bleiben,  bis  ihre Verfolger aufgegeben haben. Nachts wird sie weiterlaufen, wenn niemand sie sieht.

Plötzlich sind die Stimmen wieder da. „Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Da oben kann man den ganzen Weg einsehen. Sie kann doch nicht so weit weg sein.“ „So eine kleine Kröte, sie muss hier doch irgendwo in der Nähe sein.“ „Im  letzten  Dorf  haben  sie  noch  gesagt,  dass  das  Mädchen  hier  den  Pfad langgelaufen ist. Und jetzt ist sie weg.“ „Da  oben  konnten  wir  den ganzen Weg beobachten. Es war nichts zu sehen außer der Schafherde. Sie muss hier irgendwo in der Nähe sein.“ Wo willst du jetzt suchen? Überall kann sie sein. Wer sagt denn, dass sie auf dem Weg gelaufen ist? Willst du hinter jeden Busch gucken?“ „Daniel wird toben, wenn wir ohne sie zurückkehren.“

Rebecca wagt kaum zu atmen. Sie hat die Augen geschlossen, als ob sie sich damit unsichtbar machen könnte. Ihr Herz schlägt bis zum Hals, und sie meint, man müsste es draußen hören. Nur nicht bewegen, keinen Mucks. Auch wenn jetzt ihr Fuß juckt und es in den Ohren dröhnt.

„Komm, wir trinken noch einen Schluck und dann gehen wir zurück zum Dorf. Morgen ist auch noch ein Tag. Wir werden sie schon noch finden.“ Rebecca hört die glucksenden Geräusche, als die drei trinken. Ja, die haben es gut,  sogar  einen  Wasserbeutel  haben  sie  mit.  Ihre  Kehle  ist  ausgetrocknet. Dann erheben sich die drei, ruhig gehen sie den Weg zurück. Rebecca blickt ihnen nach. „Diesmal bin ich ihnen entkommen, aber wir werden sie  schon  noch  finden.“  Wie  eine  Drohung  klingen  die  letzten  Worte  in  ihren Ohren.

 Die  Zeit  vergeht.  Die  Sonne  steht  tief  am  Himmel.  Still  ist  es  geworden,  nur manchmal  ist  eine  Schafherde  zu  hören,  ihr  Blöken  und  Meckern.  Rebecca kriecht  aus  ihrem  Versteck.  Sie  streckt  die  steifen  Glieder,  bewegt  vorsichtig Arme und Beine. Noch ist die Hitze des Tages ungebrochen, aber bald wird der kühle  Abendwind  kommen.  Wohin  soll  sie  in  dieser  Nacht  denn  laufen?  Und das  in  völliger  Dunkelheit.  Wilde  Tiere  sind  nachts  unterwegs,  und  sie  ist schutzlos.  Wäre  es  nicht  besser,  in  der  Höhle  zu  bleiben  und  morgen  früh aufzubrechen? Nein,  nur  weg  hier.  „Wir  werden  sie  schon noch finden“, so klingt es noch in ihren Ohren.

Sie schaut nach Osten. Dort entlang über den nächsten Hügel geht der Weg. Jetzt, wo die Sonne tief steht, ist er klar zu erkennen. Lang sind die Schatten der Maulbeerbäume geworden. Ein neuer Schatten ist neben ihr aufgetaucht. „Du solltest nicht mehr losgehen, so spät am Abend,“ sagt eine fremde Stimme hinter ihr. Erschrocken fährt Rebecca herum. Die tiefstehende Sonne blendet sie, aber sie erkennt einen alten Mann, auf einen Stock gestützt. Jetzt ist sie doch entdeckt worden,  man  hat  ihr  aufgelauert,  bis  sie  am  Abend  aus  ihrem  Versteck herauskommt. 

„Du brauchst keinen Schreck zu bekommen. Ich gehöre nicht zu den Häschern des  Daniel.  Aber  ich  sage  dir:  Du  solltest  nicht  mehr  losgehen,  so  spät  am Abend. Bleib lieber hier bei meinen Schafen.“

Nur langsam dringen die Worte in Rebeccas Bewusstsein, nur langsam begreift sie, dass ihr von diesem Schäfer keine Gefahr droht. Und trotzdem zittert sie jetzt am ganzen Körper. „Hilf mir“, flüstert sie, lehnt sich gegen den alten Mann, umfasst ihn wie eine letzte Rettung. „Hilf mir!“ „Komm!“ sagt der Schäfer, „komm mit. Dort hinten ist mein Feuerplatz für die Nacht.  Dort  gibt  es  auch  einen  Pferch  für  meine  Schafe.  Wenn  die  Tiere versorgt sind, dann reden wir miteinander.“

aus: Jochem Westhof, Geheimbund Amos, Lahr 2006