Allgemein

Kompetenzen zukünftiger Religionslehrkräfte. Die Sicht eines Bibelwissenschaftlers

  1. Herausforderungen: Begeisterung und Nachhaltigkeit

Um den Erfolg der Beschäftigung mit Bibel in Schule scheint es schlecht bestellt: Vermittelt der RU „die Lust am Text“ und seiner Sache (Roland Barthes)? Werden SuS motiviert, die Bibel freiwillig und mit Neugierde zur Hand zu nehmen? Wird die Bibel über die Jahre zum Lebens- und Glaubensbuch, zur (wenn nicht schon prägenden dann wenigstens) geschätzten Wegbegleiterin oder auch nur zur Gesprächspartnerin in den kritischen Situationen des Lebens, in Freud und Leid?

Auch um die Nachhaltigkeit des erlernten Bibelwissens scheint es nicht gut bestellt zu sein. Trotz differenzierter Information (etwa über Aufbau und Entstehung der Bibel), „bleibt wenig hängen“. Unter unseren Theologiestudierenden habe ich in zehn Jahren vielleicht eine Handvoll getroffen, bei dem es anders war. D.h. der Basistext des Christentums (der zugleich je auf seine Weise ein zentraler Text für die monotheistischen Nachbarreligionen ist) bleibt fremd, fern und unzugänglich.

Was sind die Gründe für das offenkundig flächendeckende und anhaltende Versagen des RU in der „Bibeldidaktik“? Die Verantwortung ist vermutlich breit gestreut, sie liegt nicht zuerst bei den Lehrkräften, sondern in didaktischen Konzepten, Curricula, der Asuwirkung großräumigen Tendenzen auch der Bibelwissenschaften selbst und bei vielen anderen Stellen.

Ein wesentlicher Grund für die bleibende Fremdheit und nicht selten sogar im Laufe der Schulzeit noch wachsende Entfremdung ist m.E. die Zusammenhanglosigkeit der Beschäftigung mit der Bibel. Dieses Problem begegnet in verschiedenen Gestalten:

  1. Beziehung braucht Stetigkeit. Dagegen steht der in Phasen des RU sparsame Einsatz von Bibel bis zum völligen Verzicht auf Bibel im RU, sogar im Bibelunterricht: Lernen über die Bibel ohne Beschäftigung mit dem Bibeltext – keine Seltenheit.
  2. Lernen heißt, Zusammenhänge kennenlernen und erfassen: Dem stehen der atomisierende Umgang und die extreme Selektion von Perikopen entgegen, verschärft durch die Vernutzung der Bibel für fremde Fragestellungen, eine unkreative Verbindung von Perikopen und „Themen“ (Bsp. Wir lesen nicht Jona, sondern Jona = Hören auf Gottes Wort.
  3. „Verba docent, exempla trahunt“: Die um ansprechende Identifikationsfiguren wie David, Rut, Ester, Daniel, Tobit usw. gestalteten Erzählungen treten in den höheren Stufen zurück zugunsten der „Anfänge des Gottesglaubens in Israel“ oder „abstrakter“ Orientierungen wie „Exil“. Hier wirken Weichenstellungen der Universitätsexegese aus den 60er Jahren ungebrochen nach. Welchem Grad von Verwissenschaftlichung will Bibeldidakitk folgen?
  4. Ungenutzte Potentiale der Zusammenarbeit mit anderen Fächern: Bibel in ihren vielfältigen Rezeptionen in Literatur, Kunst und Musik fordert die Zusammenarbeit mit andern Fächern und fächerübergreifenden Unterricht geradezu heraus. Bsp Hiob, nicht nur ein Thema der modernen Literatur, sondern ebenso der Musik.
  5. Annäherung an Bibel über die geschichtliche Seite ist unverzichtbar; Bibel ist Literatur einer anderen Zeit und Welt. Aber auch hier wäre die Vernetzung mit dem Geschichtsunterricht chancenreich. Die Kulturen des alten Orients und der Antike tauchen nicht nur am Rande auf, die Bibel ist aus den kulturellen Begegnungen (und Konfrontationen) enstanden.
  6. Bibel und Liturgie: Der Totalausfall einer regelmäßigen Begegnung mit biblischen Texten in der Liturgie wirkt sich stark aus und ist vermutlich nicht zu kompensieren. Aber die Beschäftigung etwa mit den christlichen Festen könnte die liturgischen Deutungen der Feste (die über die wenigen Ankertexte hinausgehen) in den Blick nehmen und auch so Bibel lebensweltlich kontextualisieren. (Habe selbst gute Erfahrungen gemacht mit einer Erschließung biblischer Texte aus der Perspektive von Pesachfeier und kath. Osternachtliturgie.)
  7. Bibellese braucht auch eine (natürlich altersentprechende) theoretische und methodische Fundierung. Dazu bemerkt der Religionspädagoge Michael Zimmer: „Eine systematische und hermeneutisch akzentuierte Auseinandersetzung mit der Bibel findet (erg: im RU; gst) nicht statt!“ (Zimmer, 73)

Eine Lösung des Problems darf nicht zu oberflächlich ansetzen. Hartmut Rupp (Prakt. Theologe in Heidelberg) sensibilisiert für das Problem des RU, wenn er schreibt: „Richtig schwierig wird es…, wenn es darum geht, dass Schülerinnen und Schüler die Bibel als Heilige Schrift und als Lebensbuch verstehen können und Freude am Lesen biblischer Geschichten empfinden sollen. Solche Intentionen kann und soll man vor Augen haben, aber sie sollen und dürfen (ich ergänze: und können) nicht überprüft werden.“ (Rupp, Die Bibel, 184).

Damit kommt eine Grenze aller unterrichtlichen Beschäftigung mit dem Christentum/mit Religion in den Blick, der prinzipielle Antifunktionalismus: Solange es dem RU um die Steigerung der Lebenstüchtigkeit, die Zurüstung zu irgendetwas geht, solange Gott in welcher Weise auch immer „gebraucht“ wird, ist die Mitte oder Tiefe der christlichen Botschaft, die Erwiderung der Liebe Gottes einzig und allein um seiner selbst willen, noch nicht erreicht. Oder mit einem viel zitierten Wort von Carlo Kard. Martini: „Die Kirche erfüllt keine Bedürfnisse, sie feiert Geheimnisse.“

Die Beschäftigung mit der Bibel kann vor diesem Hintergrund nur hinweisenden und hinführenden Charakter haben, aber den müsste sie auch erfüllen. Der RU steht in dieser Hinsicht dem Musik-, Kunst- und Literaturunterricht sehr nahe, die alle „nur“ erste Blicke auf reiche Schätze gewähren können, den Boden bereiten können für ein „Sich-Bewegen, Sich-Entdecken und Sich-Verstehen“ in einer Vielfalt von „Welten“ (Kultur).

  1. Signaturen der Bibel als Heiliger Schrift (in Stichworten)

Die Bibel ist Medium einer befreienden/rettenden/verwandelnden – und in diesem Sinne „bildenden“ Begegnung = „schöpferisches“ Wort Gottes:

  • ein Großtext im Format einer Bibliothek oder Enzyklopädie
  • vielgestaltig in der Form (Gattungen) und vielstimmig in Thematik, ein wildes Buch, geradezu überbordend in jeder Hinsicht (Gottfried Bachl: ein „wildes Libretto“), jeder Harmonisierung widerstreitend
  • eine Vielzahl von Eigenwelten mit Zügen von Phantastik (hier trifft man auf ein erstes Menschenpaar, Stimmen vom Himmel, Engel auf Grabsteinen, hüpfende Berge usw.)
  • das „Entgrenzende“ als wesentliches Merkmal der Bibel (Gotteskommunikation)
  • ein Buch, in dem Geschichte (d.h. die diversen Herkünfte) in gewisser Weise „aufgehoben“ wird: das Unterschiedliche steht nebeneinander, das Ungleichzeitige wird „vergleichzeitigt“
  • mit einer komplexen Binnenstruktur, die von den Großgattungen und den Buchteilen getragen wird; der Aufbau und die Gattungen steuern die Rezeption
  • alles eingebunden in ein narratives Grundgerüst, eine Mega-Erzählung, eine Fabel „von der Schöpfung zur Neuschöpfung“, die sich aus vielen Strängen zusammensetzt
  • das Zitieren i.w.S., das Aufgreifen und Fortschreiben als Entstehungsmuster der Bibel
  • mit monotheisierenden Tendenzen, die ein „brandheißes“ religions- und sozialkritisches Potential bergen, aber auch ins Gegenteil umschlagen können
  • in einer metaphorisch-mythischen Sprache (die eigens erlernt werden muss)
  1. Chancen durch die Änderung der hermeneutischen Großwetterlage
  • die Weiterentwicklung der Differenzierung des Wahrheitsbegriff über die Gattungsfrage; im Blick auf Geschichte: Geschichte als Sinnstiftung/Konstruktion einer normativen Vergangenheit (vgl. Jan Assmann)
  • Fiktionalität als Aspekt einer jeden literarischen Vermittlung bedeutsamer Erfahrung
  • der Bibeltext als „offenes Kunstwerk“ (Umberto Eco); Wiedergewinnung des vielfachen Schriftsinnes: zielt auf je neue Kontextualisierung/bedeutsame Aneignung
  • die Gewichtsverlagerung von der Textproduktion auf die Textrezeption, die Unterschiedlichkeit der Rezeptionskontexte und der Rezeptionen; anders: Bibelentstehung und Bibelauslegung rücken wieder zusammen
  • das neue Verständnis von „Rezeption“ als aktive Konstruktionsleistung
  • die positive Sicht von Metapher und Mythos als unüberholbare religiöse Sprachformen (Hans Blumenberg: „in der Metapher ist der Geist sich selbst voraus“)
  • die Aufwertung des Alten Testaments in der zwei-einen christlichen Bibel
  • die Wiederentdeckung des Bibelkanons als des „ersten“ Kontextes für die Rezeption
  1. Kompetenzanforderungen an Religionslehrkräfte (unter Berücksichtigung der drei Ziele des RU/2005)

Drei Grunderfordernisse:

Erfordernis 1: die emotionalen Qualitäten, das Sinnliche, Ungewöhnliche, das alle grenzen Sprengende der Bibel aufnehmen

Erfordernis 2: sich von der Bibel mitnehmen lassen, Bibel nicht thematisch zu Illustrationszwecken „vernutzen“

Erfordernis 3: Bibel verorten: Kontexte der Beschäftigung mit Bibel schaffen oder aufnehmen – in Zusammenarbeit der Schulfächer, über lebensweltliche Vernetzungen in Kultur, Jahreslauf usw.; das breite Vorkommen von Bibel im Internet beachten

Drei Kompetenzfelder:

Feld (1): Mit dem Bibelbuch umgehen können und den Bibeltext lesen können

Hartmut Rupp (S. 186) unterscheidet 4 Formen des „Bibelwissens“, die zusammen einen kompetenten Umgang mit  der Bibel beschreiben.

  • „Bibelwissen“ (= Kenntnisse zentraler Inhalte und Texte)
  • „Bibelbuchwissen“ (= Kenntnisse des Aufbaus, thematischer Schwerpunkte, der Entstehung; entspricht dem klass. „Einleitungswissen)
  • „Bibelbuchkönnen“ (= Fähigkeit zur Nutzung der in der Bibel mitgegebenen Erschließungshilfen)
  • „Bibellesenkönnen“ (= grundlegende hermeneutische und methodische Kompetenzen; Hermeneutik = Reflexion des Lektüreprozesses; Methode = kontrollierte Lektüre)

Die anspruchsvollste Form ist das Bibellesenkönnen, der „Aufbau einer eigenständigen und sachgemäßen Auslegungskompetenz“ (H. Rupp, 187):

  • elementare Textkompetenz: Welche Bibel? Welche Übersetzung?
  • Sich-zurecht-Finden“ in der Textwelt, den Sprach- und Vorstellungswelten der Bibel (ein metaphern- und struktursensibler Umgang mit der Bibel)
  • Anwendung bewährter Lese- und Rezeptionstechniken (wie sie seit 50 Jahren etwa der Lesepsychologie angeboten werden, z.B. die sog. SQ3R-Strategie und ihre Varianten
  • Befähigung zu einer Bandbreite von Lektürestrategien: von der identifizierenden bis zur kritischen Lektüre
  • Aneignung durch kreative Reformulierungen, Nutzung der Vielfalt sprachlicher Formen der Bibel
  • Disput über Sachgemäßheit und Funktion vorgegebener Auslegungen

Feld (2): Die kulturellen Prägungen entdecken und die Prägekraft verstehen können

Kulturgeschichtliche und interkulturelle Kompetenz:

  • Entstehung der Bibel unter vielfältigen kulturellen Einflüssen (zentrale Vorstellungen wie „Bund“ sind Überragungen aus profanen Kontexten der Nachbarkulturen): biblischer Gottesglaube wurde ausformuliert im interkulturellen Austausch
  • Bibel in unserem Kulturkreis (immer noch) einer der wichtigsten Kulturgeneratoren), und zwar direkt (Musik, Kunst, Literatur …) oder indirekt (Kalender, ethisches Bewusstsein, Menschenbild …)

Ethik der Andersheit:

  • Identitätsentwicklung durch Bezug auf vorgegebenes Fremdes (Geschichte und Tradition; „Eintauchen“ in fremde Welten)
  • Distanzierung und Relativierung des Eigenen (Toleranz)
  • Aushalten des Nichtverstehens

Pluralismusfähigkeit:

  • Bibel als Einübung in Multiperspektivität und Vielsprachigkeit i.w.S.
  • Vielstimmigkeit und Sinnoffenheit als antifundamentalistisches Programm

Feld (3): Die Bibel als Heilige Schrift und religiöses Medium erleben und gebrauchen können

religiöse Deutungskompetenz:

  • Identifikationsangebote für eine Existenz coram Deo
  • religiöse Artikulationshilfen
  • experimentelle Erweiterungen der Existenz („literarisches Zweitleben“)

ökumenische und interreligiöse Dialogkompetenz:

  • Bibel als Verbindendes und Trennendes
  • Gottesgedächtnis in säkularer Umgebung

Befähigung zur Religionskritik:

  • Unterscheidung von Gott und Göttern/Götzenkritik
  • Aufdeckung von Missbrauch der Religion (Prophetie)

 

  1. Erwartungen an Akteure und Institutionen

Lehrpläne und Unterrichtswerke

einige Vorschläge für Akzentverschiebungen…

  • Weg von der Bibel als Steinbruch!
  • den narrativen Drive der Bibel aufnehmen: Kanon und Ganzschriften
  • die Identifikationsfiguren stärker gewichten als die „abstrakten“ Themen
  • neben den klass. „Methoden der Auslegung“ Lektürestrategien lernen und erproben
  • mit den biblischen Sprachformen experimentieren und so die eigene Sprache der Bibel aneignen
  • weniger über die Bibel lernen, mehr mit der Bibel „sprechen“ lernen

Aus- und Fortbildung

  • Es gibt ein (verständliches) Verlangen nach Methoden, ein „jumping to methods or practices“. Als retardierendes Element wäre notwenig: Mehr Hermeneutik in der Bibeldidaktik! Was ist die Bibel (als Heilige Schrift)? Und mehr Metakognition: Was heißt, was geschieht beim Lesen? Wie kann man Lesen fördern?
  • Fortbildung verpflichtend machen (vgl. das Ärztegesetz)

Zum Schluss

In der Mitte von Evangelii Gaudium (Nr. 135-144 u. 145-159) stehen Reflexionen über Sinn und Stil der Verkündigung und den persönlichen Umgang des Verkündigers mit der Hl. Schrift, Anregungen auch für den Umgang mit Bibel im RU:

„eine große persönliche Vertrautheit mit dem Wort Gottes entwickeln“ (149)

den Dialog aufnehmen, „der zwischen dem Herrn und seinem Volk bereits eröffnet wurde…“ (EG 137).

„suchen, wo die Sehnsucht nach Gott lebendig und brennend ist und wo dieser ursprünglich liebevolle Dialog erstickt worden ist“ (137)

(Prof. Dr. Georg Steins)

Literatur:

  1. Franzmann, Bodo u.a. (Hg.), Handbuch Lesen, Baltmannsweiler 2006.
  2. Rupp, Hartmut, Die Bibel im kompetenzorientierten Religionsunterricht, in: K. Finsterbusch (Hg.), Bibel nach Plan? Biblische Theologie und schulischer Religionsunterricht, Göttingen 2007, 183-193.
  3. Steins, Georg, Kanonisch-intertextuelle Studien zum Alten Testament, Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 48, Stuttgart 2009.
  4. Wagerer, Wolfgang, Das Hören ist der erste Schritt – Vernehmendes Theologisieren im strukturbewahrenden Erzählen, JB für Kindertheologie 7 (2008) 155-169.
  5. Zimmer, Die Bibel im Religionsunterricht. Vom garstigen Graben und neuen Wegen, Bibel und Liturgie 86, (2013) 72-80.
  6. AK Bibel und Didaktik, Leitfaden für Analyse von Bibeltexten unter: http://www.kath-theologie.uni-osnabrueck.de/uploads/Studium/Bibel-Text-Analyse.pdf
  7. Die deutschen Bischöfe. Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen