Respekt – ein Weihnachtswort

B-L-O-K aktuell

Ein Wort wird entstaubt

Respektspersonen!? – Wer gebraucht heute noch dieses Wort für Vorgesetzte, Lehrerinnen und Lehrer oder den Ortspfarrer? Das Wort Respekt wirkt seit langem etwas angestaubt. Es scheint in eine Gesellschaft zu gehören, die Wert auf Formen und Autorität legt. Ein aus der Mode gekommenes Wort also?

In diesem Sommer war das Wort plötzlich wieder da! Es strahlte uns von vielen Wahlplakaten in großen weißen Buchstaben auf rotem Grund entgegen, verbunden mit einem gezielten Versprechen: Respekt für Dich.  Der denkbar kurze Wahlkampfslogan hat offenbar viele angesprochen. Sie wünschen sich eine Gesellschaft des Respekts, weniger Ellenbogenmentalität, weniger Egoismus, weniger Ausrichtung auf Materielles. Hoffen wir, dass der schöne Wahlkampfslogan nicht bald schon vergessen ist und das Versprechen die Regierungsarbeit in den kommenden Jahren auch tatsächlich prägt.

Respekt meint Achtung, ja sogar Ehrfurcht, Anerkennung der Anderen in ihrer Würde. In den schwierigen letzten Monaten haben wir gelernt, dass nicht nur einigen im Rampenlicht diese Achtung zusteht. An vielen Orten und bei manchen Gelegenheiten – im Supermarkt, in der Kita, im Krankenhaus, beim Paketdienst – ist uns bewusst geworden, wie stark unser Alltag von den vielen Mitmenschen abhängt, die verlässlich und ohne viel Aufhebens ihren Dienst tun. Normalerweise kommen sie nicht groß heraus, oft werden sie übersehen, meistens auch schlecht bezahlt.

Das Wort Respekt kommt aus dem Lateinischen, es meint das Ansehen. Dieses Ansehen ist erhellend doppeldeutig: zum einen ist damit das Hinsehen und das Gesehenwerden gemeint, zum anderen die Wertschätzung und Würdigung, die jemand erfährt. Anschauen und Aufwerten: beides steckt im Wort Respekt.

Das Wort greift unsere tiefe Sehnsucht auf: jede und jeder möchte angesehen werden. Werden wir übersehen, trifft uns das hart. So viel hängt ja davon ab, nicht nur der berufliche Erfolg oder unsere gesellschaftliche Stellung, sondern unser Leben. Ein Kind, das nicht angesehen wird, kann sich nicht entwickeln. Wer immer die kalte Schulter gezeigt bekommt, wird mutlos und krank. Und umgekehrt wachsen wir über uns hinaus, wenn wir angesehen werden, Ansehen gewinnen und Aufwertung erfahren.

Gottes Respekt gilt denen am Rande

Wenn mal jemand hinschaute … dann könnte sich auch etwas ändern! Dann bliebe die Verwandlung der Welt nicht ein schöner Traum. In der Bibel entwickelt der Evangelist Lukas dafür ein besonderes Gespür. Er nimmt die vielen Übersehenen, Hilflosen und Suchenden in den Blick. Die Geburtsgeschichten um Johannes den Täufer und um Jesus von Nazaret am Anfang des Lukasevangeliums kreisen um dieses offenkundig lebenswichtige Thema: Gott schaut hin, Gott verleiht Ansehen, Gott wertet die Menschen auf.

Gleich die erste Erzählung im Lukasevangelium handelt von Gottes Respekt gegenüber einer Frau. Elisabet, wie ihr Mann schon „im vorgerückten Alter“, wird gesellschaftlich diskriminiert wegen ihrer Kinderlosigkeit. Das trifft sie besonders hart, denn das Paar lebt nach den religiösen Vorschriften. Elisabet empfindet ihre Situation als Schmach. Zacharias, Elisabets Mann, kann nicht glauben, dass Gottes schöpferische Kraft diese Lage verändern könnte. Das ist umso befremdlicher, als Zacharias, der Priester, beim Dienst am Tempel genau dieses Versprechen durch den Engel Gabriel erhält. Welche Spannung liegt in dieser Geschichte! Mitten im Heiligtum, mitten unter dem amtlichen Personal herrscht das Unvermögen zu glauben, alles auf Gottes Möglichkeiten zu setzen! Die Sache geht glücklich aus: Elisabet fasst ihre Erfahrung mit Gott in einem Wort zusammen: „Der Lebendige, der Gott Israels, hat mich angeschaut und hat mich rehabilitiert unter den Menschen.“

In der zweiten Geschichte, die Lukas erzählt, geht es ebenfalls um die unfassbaren Möglichkeiten Gottes. Wieder muss ein Engel die Botschaft bringen, dass Gott Unerwartetes vorhat. Engel bieten sich an, weil solche Botschaften jenseits des Üblichen nur „vom Himmel“ kommen können. Wie reagiert Maria? Sie ist nicht ungläubig, allerdings wirkt sie völlig überrascht, geradezu überrumpelt. Der Engel kündigt nicht nur ihre Schwangerschaft an. Nein, sie soll Mutter eines künftigen Königs werden. Als sich die beiden Frauen treffen und über die unfassbaren Umbrüche in ihrem Leben austauschen, findet Maria ähnliche Worte wie Elisabet, ihre Verwandte: „Meine Seele jubelt über Gott, meinen Retter; er hat seine kleine unbedeutende Dienerin angeschaut.“ Wir nennen diesen Jubelgesang Marias nach dem ersten Wort im Lateinischen das Magnifikat. In der lateinischen Fassung ist ausdrücklich vom Respekt Gottes die Rede: „quia respexit humilitatem ancillae suae“ – „weil Gott der kleinen Magd mit Respekt begegnet ist“.

Mit einiger Verspätung geht schließlich auch dem Priester Zacharias auf, dass Gottes Möglichkeiten nicht an den Grenzen der Menschen Halt machen. Und dann muss auch er darüber öffentlich sprechen. Und wieder geht es um Gottes Respekt für die, die auf Rettung aus der Not warten: „Gepriesen sei der Ewige, der Gott Israels; denn hergesehen hat er, Erlösung seinem Volk gebracht… durch das Erbarmen, das Gottes innerstes Anliegen ist.“ In der vertrauteren Übersetzung dieser Bibelstelle ist vom Besuch Gottes bei seinem Volk die Rede. Die Vorstellung ist ganz ansprechend, aber der Text sagt mehr: Es geht bei diesem Besuch ums Hinsehen, ums Sichkümmern, ums Aufrichten. Und wenn Gott diesen Respekt zeigt, dann können sogar Finsternis und Todesschatten weichen, wie Zacharias am Ende seines Jubelliedes im ersten Kapitel des Lukasevangeliums bekennt.

Eine Kirche des Respekts werden

Respekt für Dich! – das wäre ein passender Slogan für die aktuellen Suchbewegungen in unserer teils sehr aufgewühlten und teils sehr müde und matt gewordenen Kirche. Die vielen Fragen, die wir augenblicklich in der Kirche diskutieren, werden von einer Frage überlagert, oder besser überschattet: Wie kann das völlig zerrüttete Vertrauen in die Kirche wiederaufgebaut werden? Diese Frage lässt viele auch in der Kirche regelrecht verzweifeln, sie gehen, weil sie für sich keinen Weg mehr mit der Kirche sehen. Reformen sind notwendig, die offizielle Kirche hat viele soziale, wissenschaftliche, kulturelle Herausforderungen viel zu lange verdrängt und sich in einem Gefühl der Überlegenheit und nicht selten der Besserwisserei eingerichtet. Der Schaden ist groß, der Druck zu handeln enorm.

Reformen sind unumgänglich. Sie müssen jedoch begleitet werden von einem Kulturwandel – hin zu einer Kirche des Respekts! Mit Lukas als Begleiter und gewissermaßen als Coach können wir in diesem Kirchenjahr lernen und üben, auf die Kleinen, die Armen, die Verkannten, die Ausgegrenzten zu schauen. Denen, die kein Ansehen genießen, begegnet Gott zuerst mit Respekt. Sein Blick erhebt sie aus dem Staub, lässt sie aufleben. Respekt baut auf, macht Mut und schafft Vertrauen.

Christsein ist nicht kompliziert, aber nicht selten unkonventionell und immer folgenreich: mit dem liebenden Blick Gottes auf die schauen, die sonst niemand anschaut. Weihnachten sagt uns, dass der nötige Kulturwandel „ganz oben“ schon längst begonnen hat: Gott schaut uns an und wertet uns auf.

Prof. Dr. Georg Steins

erschienen 2021 bei www.katholisch.de