Heilige Schrift

Bibel verstehen

Georg Steins

„Ich las das Unanständige, ich las die Bibel. Und niemand konnte mich dafür der Unanständigkeit bezichti-gen. ‚Christ sein bedeutet das Recht, ein anderer zu werden’, sagte Dorothee Sölle, ein Satz, der mich später tief beeindruckt hat. – Ein anderer zu werden: Mit den Buchstaben beginnt das, mit der Schrift, mit der heiligen Schrift, den heiligen Schriften.“ (Peter Bichsel)

Bibel – Schriften – Schrift
In unserem Kulturkreis begegnet der Ausdruck „Heilige Schrift“ regelmäßig als – Untertitel! Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung Martin Luthers – so ist die „Lutherbibel“ überschrieben. Die katholische Standardausgabe scheint sich daran orientiert zu haben: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Auf dem Buchrücken kann Die Bibel oder (Die) Heilige Schrift erscheinen. „Bibel“ und „Heilige Schrift“ sind Wechselbegriffe, weitgehend synonym gebraucht, ob-wohl sie ganz unterschiedliche Aspekte des Bezeichneten hervortreten lassen.

Das in den modernen westlichen Sprache gängige Wort „Bibel/bible/la bible usw.“ verdankt sich einem sprachlichen Missverständnis: Das griechische ta biblia, ein Neutrum Plural, bezeichnete im antiken Judentum und der Alten Kirche „die (heiligen) Bücher“, so in 1 Makk 12,9 (vgl. Röm 1,2, ähnlich 2 Tim 3,15). In der lateinischen Kultur des Hochmittelalters wurde der griechische Plural als lateinisches Feminimum im Singular (biblia) gelesen. Aus den vielen Büchern war auch begrifflich das eine Buch, die Bibel geworden. Sachlich unangemessen war dieser Schritt jedoch nicht; er brachte auf den Punkt, als was die Schriften immer schon empfunden wurden.

Für den biblisch häufiger belegten Ausdruck „die Schriften“ ist dieser Übergang zur Wahr-nehmung der vielen Bücher als sachliche Einheit, als „die (eine) Schrift“, bereits innerbib-lisch zu verfolgen. Sowohl im Galaterbrief des Paulus (Gal 3,8.22) in den 50er Jahren des ersten Jahrhunderts n. Chr. wie auch ca. 40 Jahre später im Johannesevangelium (Joh 2,22; 10,35; 17,12; 20,9) als auch Anfang des 2. Jahrhunderts (1 Petr 2,6 und 2 Petr 1,20) finden wir den Singular „die Schrift“ für die Bücher der jüdischen Bibel. Diese werden nicht nur in ihrer Verschiedenheit wahrgenommen, sondern auf das sie Verbindende hin gelesen. Wer von „der Schrift“ spricht, liest mehr heraus, als auf den ersten Anschein zu lesen ist, und fügt die Bücher – im Akt der Rezeption – zu einem großen Werk zusammen. Das Ver-bindende kann sehr verschiedenen gefasst werden, je nach Lage der Lesenden: Bei weit-gehend gleichem Text (jedenfalls für die Hebräische Bibel bzw. den ersten und größeren Teil der zwei-einen christlichen Bibel) gehen Judentum und Christentum im Verständnis des die Schriften zur Einheit Verbindenden getrennte Wege, weil ihre gemeinsamen Ba-siserfahrungen und damit ihre Leseperspektiven nicht identisch sind. Wenn zwei das Glei-che lesen, ist es nicht dasselbe; das gilt für jede/n einzelne/n ebenso wie für Gruppen.

Das Lesen ist genauso kreativ wie das Schreiben, ließe sich in Anlehnung an Peter Bichsel formulieren. Joh 2,22 ist eines dieser christlichen Programmworte für die Interpretation der Schriften im Ausgang von der Jesus-Erfahrung:

„Als er von den Toten aufgestanden war, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte.“

Heilige Schrift – das ist nicht ein geschriebener oder gedruckter Text allein, sondern offenbar steht der Ausdruck für ein umfassendes kulturelles Konzept. Im Kern steckt eine eine Autoritäts- oder Glaubwürdigkeitsfrage, präziser vielleicht: ein komplexes Zusammenspiel von Erfahrung, Erinnerung und Text. Das Zitat aus dem Johannesevangelium erlaubt eine Innenschau in den kirchen- und theolo-giegeschichtlich so bedeutsamen Prozess, der zu der christlichen Gestalt der Heiligen Schrift geführt hat. Diese hat eine wahrhaft hybride Gestalt. Es handelt sich um die der zwei-einen christliche Bibel aus dem Alten und dem Neuen Testament: Es ist das „neue“ Wort, das ohne das „alte“ nichts zu sagen hätte und dieses alte (er)neu(t) zur Geltung bringt, weil es selbst so unerhört ist.

Der Übergang zur einheitlichen Wahrnehmung der „biblischen“ Schriften als „die (eine) Schrift“ ist umso bemerkenswerter als er schon zu einer Zeit erfolgte, als die biblischen Bücher materialiter noch in Rollen getrennt waren, man also die eine Schrift noch gar nicht in der Hand halten konnte. Wohl erst ab dem 2. Jahrhundert setzt sich im Christentum die Buchform, der Kodex, durch. Aber der Übergang von den vielen Rollen zum Kodex ist bereits im Verständnis vorbereitet. Hier findet eine Interpretation schnell das für sie passende Medium.

Es bleibt an dieser Stelle festzuhalten: Der Ausdruck „die Schrift“ als Bezeichnung eines umfangreichen in sich vielgestaltigen Literaturkorpus ist das Ergebnis einer Zusammenschau, einer theologischen Synthese, die in den Schriften mehr sieht als eine zufällige Literaturauswahl oder lockere Sammlung. „Schrift“ heißt jetzt: in dem vielen ist das eine, ist der Eine zu finden – in den Worten das Wort. Tritt das Attribut „heilig“ hinzu, ist diese Interpretation noch einmal gesteigert. Wie wird aus den Schriften die eine Schrift, die da-zu noch „heilig“ heißt?

Der Ausdruck „die heilige Schrift“ (Singular) kommt überraschenderweise weder im Alten noch im Neuen Testament vor. „Heilig“ heißen „die Schriften“ (Plural) innerbiblisch nur an den oben genannten drei Stellen. Origenes etwa spricht von „heiligen“ oder „göttlichen“ Büchern und hat schon das Alte wie das Neue Testament im Blick. Mit den Rabbinen und den Theologen der Alten Kirche wird der singularische Begriff mehr und mehr geläufig.

Was ist eine „heilige/göttliche“ Schrift? Das ist bereits in der Bibel, im Alten Testament, vorbereitet. Die Bibel bietet nicht nur Texte irgendwelcher Art, die als heilige Schrift betrachtet werden. An bedeutsamen Stellen, ist auch das Werden von Heiliger Schrift ihr Thema; die Bibel wird gelegentlich selbstreferentiell. Sie überliefert Urszenen der Heiligkeit der Schrift, die die viel spätere Verdichtung im Begriff „Heilige Schrift“ vorbereiten und ausgestalten. Die Qualifizierung der Bibel als Heiliger Schrift ist also nicht später von außen herangetragen worden, sonder in ihr selbst begründet und auch dadurch gerechtfertigt:

Schrift-Wort gegen Kult-Bild
„Heilige Schrift“, das ist biblisch von Anfang an eine hochemotionale Angelegenheit, an der sich eine Beziehung entscheidet, eine Sache von Leben und Tod: „Mose kehrte um und stieg den Berg hinab; dabei waren die zwei Tafeln des Zeugnisses in seiner Hand, Tafeln auf ihren beiden Seiten beschrieben, von hier und von hier waren sie beschrieben. Die Tafeln: ein Gotteswerk waren sie; und die Schrift: Schrift Gottes war sie, graviert auf die Tafeln.“ (Ex 32,15f; vgl. 24,12) Ein sehr umständlich, fast im vorsichtigen, alle Aspekte zu erfassen suchenden Stil eines Notars formulierter Text, platziert mitten in der aufwühlenden Szene um das Goldene Kalb in Ex 32.

„Und dann: Als er sich dem Lager näherte und er das Kalbsding und Tänze sah, entflammte der Zorn des Mose. Er schleuderte die Tafeln aus seiner Hand und zerschmetterte sie unten am Berg. Und er nahm das Kalbsding, dass sie gemacht hatten, verbrannte es im Feuer und zermalmte es bis dass es Staub war. Er streute es aufs Wasser und ließ die Kindern Israels trinken.“ (Ex 32,19f)

Das ist die Ur-Opposition, in die Heilige Schrift hineingestellt ist: Gottes Schrift gegen Kalbszeug, von Menschen gegossen. Mose ist kein Bonifatius, der die Donareiche fällen lässt und dann das Evangelium verkündet. Wenn das Volk um’s Kalb tanzt, ist auch die Gottesschrift erledigt, es fehlt die Beziehung, die erst die Schrift verstehbar macht. Im Gericht geht alles unter. Ein ungeheurer Gedanke, der in der Perikope vom Goldenen Kalb inszeniert wird. Sogar Aaron, der Priester, zu dessen Aufgabe die Vermittlung der Schrift gehört, hatte das Seine zum Desaster beigetragen:

„Mose sah das Volk, dass es entfesselt war, denn Aaron hatte es entfesselt, um es den Gegner gleichzutun“ (Ex 32,25, übersetzt in Anlehnung an S. R. Hirsch und Ch. Dohmen).

Fazit: Der erste Versuch einer Implementierung der Schrift Gottes misslingt, und zwar völlig. „Heilige Schrift“ kann es unmöglich geben ohne „Hörer des Wortes“. Die Opposition von Schrift-Wort und Kult-Bild markiert die Urspannung, in die Israels Heilige Schrift gestellt ist. Hier das Werk Gottes, dort das Tun der (Menschen-)Hände, wie es formelhaft immer wieder in der Götterbildpolemik heißen wird. Gottes Schrift hat keinen Platz, wenn die Tänze dem Goldenen Kalb gelten. Zur „Lösung“ der Krise wird eine Doppelstrategie gefahren: Gott lässt nicht von seinem Volk, er selbst trägt die Entfremdung („Sünde“) weg (Ex 34,6), die Beziehung hat von Gott her alle Zukunft. Die Bindung an den einen Gott wird angesichts der Dauerversuchung durch Goldene Kälber nun im Detail geregelt. Diese Vereinbarungen hält Mose schriftlich fest (vgl. Ex 34,10-26 und 27).

Auch die Gottesschrift kommt erneut ins Spiel, allerdings in einer leicht zu übersehenden Offenheit:

„Er war dort bei JHWH vierzig Tage und vierzig Nächte. Brot aß er nicht und Wasser trank er nicht. Er schrieb auf die Tafeln die Worte des Vertrages, die zehn Worte. Und es geschah beim Abstieg des Mose vom Berg Sinai: die beiden Tafeln der Vertragsurkunde waren in seiner Hand bei seinem Abstieg vom Berg, Mose aber wusste nicht, dass die Haut seines Gesichtes strahlte aufgrund seines Redens mit ihm.“ (Ex 34,28f).

Der Tod der Heiligen Schrift, jeder Heiligen Schrift ist die zwanghafte Vereindeutigung. Der kurze Textauszug leiste sich gleich zwei Unbestimmtheitsstellen. Wer schreibt auf die Tafeln? Streng nach der Syntax muss es Mose sein, aber in 34,1 hatte Gott angekündigt, die neuen Tafeln beschreiben zu wollen; Ex 34,28 ist uneindeutig. Und – zweite Unbestimmtheit – wer redet mit wem? Diese Lücken haben positive Folgen: Der Akzent verlagert sich vom Vorgang der Mitteilung im Reden und Schreiben auf die „Effekte“: Da ist das in Stein gehauene Gotteswort, das bleibt und immer mitgeführt werden kann. Daneben gibt es den „strahlenden“ Mose (ein faszinierendes Bild!), dessen verhüllter Glanz Gottes Nähe vermittelt und der für den geschichtlichen Fortgang der Offenbarung steht.

Mit nochmals anderen Worten und distanziert, vielleicht sogar etwas technisch beschrieben: Vor dem Hintergrund einer erschütternden Krisenerfahrung bauen diese Texte des Exodusbuches eine komplexe Vorstellung über die Vermittlung der Nähe Gottes zu Israel auf: Die Bedeutung von Schrift, die schon im Bundessschluss Ex 24 deutlich geworden war, wächst noch. Sie soll die Unverfälschtheit der Gottesbeziehung sichern und den authentischen Gotteswillen vernehmbar machen. Das also ist der Sinn „Heiliger Schrift“: die Unterscheidung von Gott und Götzen, Begründung und Bewahrung „geregelter“ Beziehungen zum Gott, der allein befreit. Aber es reicht nicht, Gottes Willen in Stein zu meißeln, sein Reden muss weitergehen. Ohne Kommentar gibt es keine lesbare/lebbare Schrift. Spätere rabbinische Theologie hat diese am Anfang der Bibel bereits vorgestellte Idee systematisiert in der Lehre von der doppelten Tora, der schriftlichen und der mündlichen. Eine solche Dichte der Entfaltung einer Theologie der Heiligen Schrift in Form einer Erzählung findet sich in der Bibel kein zweites Mal.

Heilige Schrift – ein Phänomen des Übergangs
Prekär sind Anfänge, prekär sind Übergänge. Das Thema Gott und Schrift wird immer wieder inszeniert, gerade an den stets krisenhaften Übergängen. Die Schrift ist biblisch als Gabe vom Sinai Lebensbe-gleiterin des Gottesvolkes und zuerst Pflichtlektüre für das „Führungspersonal“.

„Nicht lass weichen dieses Buch der Weisung von deinem Mund; du sollst darüber murmeln tags und nachts, damit du darauf achtest zu tun, gemäß allem, was in ihm geschrieben ist. Denn dann wirst du deinen Weg gelingen lassen und dann wirst Du einsichtig handeln.“

Nach Jos 1,8 (hier in einer möglichst wörtlichen Übersetzung) erhält Josua das Buch der Weisung des Mose als Begleitung des Projekts „Vollendung des Exodus“. Die Einheitsübersetzung macht Josua zum Dauerredner („Über dieses Gesetzbuch sollst du immer reden…“) und ordnet das Nachsinnen über den Text dem Reden nach – eine sachlich wenig überzeugende Reihenfolge. Schwerer aber wiegt, dass diese Übersetzung die subtile Pointe verfehlt, indem sie den intertextuellen Bezug verkennt. Es heißt in der auf-fälligen Formulierung des hebräischen Textes, dass Josua das Buch „nicht weichen lassen soll von seinem Mund“. Damit ist nicht das Reden gemeint, sondern das Lesen: Josua soll ununterbrochen im Tora-Buch lesen, in antiker Manier, also halblaut und mit bewegten Lippen. Die innerbiblische Anspielung ist leicht herauszuhören. Josua ist kein zweiter Mose, das wird ausdrücklich abgewehrt; aber Gott hatte zu Mose „von Mund zu Mund gesprochen“, wie Num 12,8 herausgestellt wird. Wenn Josua nun „mit dem Mund“ am Buch hängt, setzt sich in der Lektürepraxis in gewisser Weise das intime Gespräch zwischen Gott und seinem Diener Mose fort. Er liest nicht nur die nachgelassenen Schriften des Mose. Auch wenn am Ende des Pentateuch die Unvergleichlichkeit des Mose betont wird (vgl. Ex 34,10f), so ist die Zeit der Zeichen und Wunder mit seinem Tod nicht vorbei, weil es das Buch der Weisung mit der Richtungsvorgabe für das Gelingen des Weges gibt (Jos 1,8b): geleitet von der Heiligen Schrift wird der Weg des Josua in das Land zu einem Weg der Wunder.

Und auch hier öffnet sich der Blick nach vorne auf spätere Rezipientinnen und Rezipienten, denn diese können die Lektürepraxis Josuas übernehmen und sich in die Traditionskette einreihen. Die Schrift macht es möglich. In Dei Verbum, der Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, heißt es in einer geradezu poetischen Formulierung über die Beschäftigung der Kirche mit der Schrift, darin sei „Gott, der einst gesprochen hat, ohne Unterlass im Gespräch mit der Braut seines geliebten Sohnes“ (DV Nr. 8). Die Metapher lässt sich bis an den Anfang der Formierung der Tora des Mose zurückverfolgen. Es handelt sich um eine biblische Basismetapher für die Schrift gewordene Offenbarung.

Immer wieder taucht die Heilige Schrift in Krisen und Übergängen; sie spielt die Macht des gottgesetzten Anfangs so ein, dass es in der Not der Zeit Orientierung gibt (vgl. 2 Kön 22f; Jer 36). Die Erzählung von der Verlesung der Tora als Zentrum der Neugründung der Gemeinde nach dem Exil in Nehemia 8 entwirft zugleich eine Art Theologie der Liturgie: Jede um die Tora zentrierte Liturgie ist ein Akt der Neugründung, weil das Gottesvolk in die Ursituation des Sinai zurückversetzt wird: „Heute, wenn ihr meine Stimme hört…“ (vgl. Ps 95,7b; die Schrift heißt im Judentum auch „Miqra“, das laut Vorzutragende; der Ausdruck kehrt wieder im arabischen Wort „Koran“). Im Neuen Testament setzt sich diese Reihe fort: Der vielfach belegte explizite Hinweis auf die Heilige Schrift will nicht eigentlich etwas „beweisen“, das wäre zu eng und intellektualistisch gedacht. Es geht um eine Ver-Setzung oder Ver-Wandlung im Hören, im Lesen im murmelnden „In-sich-hinein-Sprechen“ (vgl. Mk 12; Lk 24; Joh 20f und explizit in 2 Petr 1).

Heilige Schrift – etwas anderes als ein Text
Die knappen biblischen Sondierungen zum Konzept „Heilige Schrift“, die sich vervielfältigen ließen und noch viele wichtige Einsichten zu Tage fördern könnten, zielen auf eine wichtige Bestimmung: „Heilige Schrift“ ist nicht gleichzusetzen mit einem Text. Auf diesem Unterschied hat schon vor über 20 Jahren der amerikanische Religionsgeschichtler Wilfred Cantwell Smith in seinem epochalen Werk „What is Scripture?“ bestanden. „Schrift“ ist demnach nicht eine dem Text innewohnende Qualität. Der Schriftcharakter hat vielmehr zu tun mit der Rolle eines Textes für eine Gemeinschaft und dessen Rolle in der kulturellen Entwicklung. Die moderne Exegese war fast 200 Jahren stolz darauf, die Besonderheit der Bibel als Heiliger Schrift völlig zu ignorieren und die biblischen Texte wie andere überlieferte Dokumente der Antike zu untersuchen, wie Smith kritisch feststellt.

Die Bibel als Heilige Schrift kann unter drei Rücksichten betrachtet werden: Sie ist erstens ein Text, der geschrieben, gedruckt, gelesen, gehört, übersetzt und studiert werden kann. Im Vordergrund steht die Re-Konstruktion, die Gewinnung von Erkenntnis über das Werden des Textes, die Umständen seiner Entstehung, sein ursprünglicher Wortlaut, die Bearbeitungen im Laufe der Überlieferung, die Herkunft seiner Bilder, seine Bedeutung usw. Der Text bleibt in einem „Damals“, wird intensiv betrachtet, aber er ist ein toter Käfer unter der Lupe.

Die Bibel ist zweitens aber auch und im Bewusstsein der meisten vor allem ein heiliger Text. Er hat eine Aura, einen Bezug zu einer anderen Welt, ihm eignet Transzendenzcharakter. Er geht nicht auf in der Welt, so könnte man etwas vage formulieren. Ein solcher Text wird nicht zuerst studiert, sondern feierlich entgegengenommen. In der Synagoge ist die Torarolle geschmückt wie eine Königin, wird herumgetragen, begrüßt und geküsst. Aus der Pergamentrolle wird singend vorgetragen. Am Ende wird der Text verabschiedet und feierlich in einem Schrein deponiert. Christliche Liturgie kennt Entsprechendes. Das „Laut-Werden“ wird inszeniert. Der Text kommt „von ferne“, aber er baut um sich herum ein „Heute“ auf, indem das Damals zur Gegenwart wird und in dem auch gleich schon die Zukunft in einem neuen Licht aufscheint. Der Text tritt zurück und wird zum Element eines umfassenderen Ritus, in dem eine Glaubensgemeinschaft sich selbst als gestiftet erfährt. Daher legt sich alle Erfahrung dieser Gemeinschaft und alles, was zu dieser Gemeinschaft gehört, gleichsam um den Text herum. Der Text ist Teil eines heiligen Gefüges. Das gilt übrigens auch für Glaubensgemeinschaften, die ein „sola scriptura“ auf ihre Fahnen schreiben. Die gedruckte Bibel, die sie vor sich haben, ist nicht schon die Heilige Schrift, mit der diese Gemeinschaften auf das Engste verbunden sind. Zur Schrift gehört eine lebendige Beziehung, die aus der Geschichte kommt und in der Gegenwart gelebt wird. Gerade hier gilt die oben zitierte Einsicht des vergleichenden Religionswissenschaftlers W. C. Smith, dass „Schrift“ als Heilige Schrift kein Text ist. Schrift ist ein Monument, kein Dokument: Das Dokument belegt eine vergangenen Wirklichkeit, das Monument vergegenwärtigt etwas, das nie vergehen soll. Die Heilige Schrift ist Zeugnis und Quelle. Für den Heiligen Text einer Glaubensgemeinschaft ist die Nichtidentität von göttlichem Wort und überliefertem Text grundlegend. Das Studium des Textes bereitet günstigstenfalls einen Weg zum Hören des Wortes. Denn letztlich geht es nicht darum, den Text (richtig) zu verstehen, sondern mit dem Text, sich, die anderen und die Welt zu ordnen, Sinn zu finden. Die Schrift ist in dieser Hinsicht schöpferisch, sie vermittelt geordnete Verhältnisse durch das Wort (vgl. Gen 1). Schrift will verwandeln, die Welt transformieren – biblisch gesprochen – nach dem Wort und Willen Gottes. Die Zwei-Einheit der christlichen Bibel aus Altem und Neuem Testament schreibt sich in dieses Muster ein: Wer das Alte/Erste Testament liest, lernt Gottes Absichten kennen und kann verstehen, was Gott in Christus „vorhat“. Er wird als das Wort dargeboten, das Gott ungetrübt zur Sprache bringt.

Davon unterscheiden lässt sich eine dritte Perspektive auf Schrift: Die Heilige Schrift gehört nicht exklusiv den Glaubensgemeinschaften. Sie ist auch ein allgemeines Kulturgut, ein öffentlicher Text von großer kulturbildender Kraft, mehr Ereignis als Text, oder so etwas wie ein kultureller Lebensraum. Die Bibel führt der Sprache und Kultur Frischluft zu, ohne die das Atmen schwerer fiele. Man kann die Bibel lesen, mit Gewinn rezipieren, ohne einer Glaubensgemeinschaft anzugehören oder in einem spezifisch kirchlichen Verständnis gläubig zu sein. Im Blick auf die drei Perspektiven gesprochen: Die Bibel gehört als Text einer fremden Kultur der Wissenschaft, sie ist heiliger Text der Glaubenden, und sie inspiriert die Allgemeinheit, auch wenn diese sich in vielen Bereichen säkular gibt und versteht.

(zuerst [mit Fussnoten] in: Bibel und Liturgie 87 (2014) 290-296