Die Eigenart der Bibel: Dokument einer Glaubensgemeinschaft
Päpstliche Bibelkommission vom 23.4.1993 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 115)
(Auswahl, Überschriften und Hervorhebungen von Prof. Dr. Georg Steins)
Die Feststellung eines „Kanons“ der Heiligen Schrift war das Resultat eines langen Prozesses. Die Gemeinschaften des Alten Bundes (von besonderen Gruppen wie den prophetischen Kreisen oder dem priesterlichen Umfeld an bis zum gesamten Volk) haben in einer gewissen Anzahl von Texten das Wort Gottes erkannt, das ihren Glauben weckte und ihrem Leben eine Richtung gab; sie haben diese Texte wie ein Erbe zu treuen Händen erhalten, das es zu bewahren und weiterzugeben galt. So sind diese Texte nicht mehr nur Ausdruck der Inspiration einzelner Autoren; sie sind zum gemeinsamen Besitz des Gottesvolkes geworden. (S. 82)
Indem die Kirche den Kanon der Schriften feststellte, hat sie ihre eigene Identität deutlich erkannt und definiert, so dass die Heilige Schrift fortan wie ein Spiegel ist, in dem die Kirche ihre Identität immer wieder entdecken und durch die Jahrhunderte hindurch die Art und Weise verifizieren kann, wie sie selbst fortwährend auf den Ruf des Evangeliums antwortet und wie sie sich ihrem Auftrag als dessen Übermittlerin entsprechend verhält. Dies verleiht den kanonischen Schriften einen Heilswert und eine theologische Stellung, wodurch sie sich radikal von anderen alten Texten unterscheiden. Wenn diese zwar auch Licht auf die Anfänge des Glaubens werfen können, so können sie doch niemals die Autorität der heiligen Schriften beanspruchen, die als kanonisch und damit als für das Verständnis des christlichen Glaubens grundlegend erachtet werden. (S. 83)
Grundsätzliche Offenheit und Vielfalt der Auslegung
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Bibel selbst zahlreiche Hinweise und Anregungen zur Kunst der Interpretation enthält. In der Tat, seit ihren Anfängen ist die Bibel selbst Interpretation. Ihre Texte wurden von den Gemeinschaften des Alten Bundes und der apostolischen Zeit als gültiger Ausdruck ihres Glaubens erkannt. (S.80)
Da der Ausdruck des Glaubens, wie man ihn in der von allen anerkannten Heiligen Schrift fand, sich immer wieder erneuern musste, um neuen Situationen zu begegnen ‑was die wiederholten „Wiederaufnahmen“ („relectures“) vieler biblischer Texte erklärt ‑, bedarf die Auslegung der Bibel in gleicher Weise einer schöpferischen Dimension und der Stellung neuer Fragen, um von der Bibel her Antwort auf sie zu finden. (S. 80)
Da die Texte der Heiligen Schrift manchmal in Spannung zueinander stehen, ist die Interpretation notwendigerweise pluralistisch. Keine einzelne Interpretation kann den Sinn des Ganzen erschöpfen, der wie eine Symphonie mehrstimmig ist. Die Auslegung eines einzelnen Textes darf also nicht exklusivistisch geschehen. (S. 80)
Die Heilige Schrift steht in fortwährendem Dialog mit den Glaubensgemeinschaften: sie ist ja aus ihren Glaubenstraditionen hervorgegangen. Ihre Texte haben sich in der Beziehung zu diesen Traditionen entwickelt und andererseits zu ihrer Entwicklung beigetragen. Daraus folgt, dass die Auslegung der Heiligen Schrift innerhalb der Kirche stattfindet, in ihrer Pluralität und ihrer Einheit, und in ihrer Glaubenstradition. (S. 81)
Als geschriebenes Wort Gottes hat die Bibel einen Sinnreichtum der nicht voll und ganz ausschöpfbar ist und in keiner systematischen Theologie adäquat eingeschlossen werden kann. Eine der hauptsächlichsten Funktionen der Bibel ist es, die theologischen Systeme herauszufordern und die Existenz wichtiger Aspekte der göttlichen Offenbarung und der menschlichen Realität beständig in Erinnerung zu rufen, die in der systematischen Reflexion manchmal vergessen oder vernachlässigt wurden. (S. 98f)
Kritik der historisch‑kritischen Methode
Das ganze Bemühen der historisch‑kritischen Exegese geht dahin, den genauen Wortsinn dieses oder jenes biblischen Textes in der Situation seiner Entstehung zu bestimmen. Doch lässt sich diese Theorie heute angesichts der Erkenntnisse der Sprachwissenschaften und der philosophischen Hermeneutiken, die die Polysemie (= Vieldeutigkeit) geschriebener Texte anerkennen, so nicht mehr halten. (S. 68)
In der Tat kann die historisch‑kritische Methode ja kein Monopol beanspruchen. Sie muss sich ihrer Grenzen bewusst werden und auch der Gefahren, denen sie ausgesetzt ist. Die jüngsten Entwicklungen der philosophischen Hermeneutiken und was wir in Bezug auf die Interpretation der Heiligen Schriften innerhalb der biblischen Tradition und der Tradition der Kirche feststellten, haben das Interpretationsproblem in einem neuen Licht erscheinen lassen, das die historisch‑kritische Methode nicht immer wahrnehmen wollte. Die alles beherrschende Absicht dieser Methode den Sinn der Texte zu bestimmeten, indem sie diese in ihren ursprünglichen historischen Kontext einordnet, macht sie in der Tat manchmal weniger offen für den dynamischen Aspekt der Bedeutung und die Möglichkeiten einer weiteren Entwicklung des Sinnes. (S. 115)
Auslegung der Schrift ‑ Aufgabe aller
Da die heiligen Schriften der Kirche geschenkt wurden, sind sie ein gemeinsamer Schatz des ganzen Volkes der Gläubigen … So haben alle Glieder der Kirche eine Rolle bei der Interpretation der heiligen Schriften zu übernehmen. (S.86)
Die ganze biblische Überlieferung und namentlich die Lehre Jesu in den Evangelien nennen als bevorzugte Hörer des Wortes Gottes diejenigen, die von der Welt als Leute einfacher Herkunft betrachtet werden. (S. 88)
Eine besondere Freude ist heute die wachsende Zahl von Frauen, die als Exegetinnen oft in die Interpretation der Heiligen Schrift neue Einsichten einbringen und Aspekte ins Licht rücken, die in Vergessenheit geraten waren. (S. 89)