Hoffnung aus dem Blumentopf – Predigt zu Jes 35,1-10

zu biblischen Texten

Wie Menschen Gottes verwandelnde Kraft erfahren

Von Regina Wildgruber

„Als Mary Lennox in das Herrenhaus Misselthwaite geschickt wurde, um bei ihrem Onkel zu leben, sagten die Leute, einem so unangenehm aussehenden Kind seien sie noch nie begegnet. ….“

So beginnt die englische Kinderbuchautorin Frances Hodgson Burnett ihre Geschichte „Der geheime Garten“. Nach dem Tod ihrer Eltern wird Mary in das Haus ihres Onkels irgendwo im ländlichen England gebracht. Es ist Winter, das Haus ist riesig und die kleine Mary weiß nichts mit sich anzufangen. Irgendwann wird es dem Kindermädchen, einer energischen und fröhlichen jungen Frau, zu bunt. Sie packt das missmutige Kind in warme Kleider und schickt es nach draußen. Das ist der Anfang einer Verwandlung. Mary freundet sich mit dem Gärtner an, einem alten Herrn, der genauso eigenbrötlerisch und verschroben wie sie selbst ist, und dann auch mit einem Jungen aus dem Dorf, der mit den Tieren sprechen kann. Nach und nach kehrt das Leben in sie zurück, so dass sie schließlich sogar in der Lage ist, das dunkle Geheimnis des Herrenhauses zu lüften.

Szenenwechsel

Staub und Steine, soweit das Auge reicht. Unbarmherzig brennt die Sonne auf die ausgedörrte Landschaft. Kein Baum bietet Schutz und Schatten. Hier wächst kein Gras mehr. Doch, sagt Jesaja. Diese Steppe wird blühen. „Jubeln werden die Wüste und das trockene Land, jauchzen wird die Steppe und blühen wie die Lilie. (…) Der glühende Sand wird zum Teich und das durstige Land zu sprudelnden Wassern.

Szenenwechsel

Als ich im Februar 2015 die philippinische Stadt Tacloban besuche, sind die Wunden, die der verheerende Wirbelsturm geschlagen hat, noch deutlich sichtbar. Unvorstellbar die Gewalt, mit der das Meer ein Schiff bis weit in die Stadt hineingedrückt hat. Wie ein Mahnmal ragt der Bug aus dem Asphalt der Straße. Die Ruinen der Häuser wirken wie Skelette. Ihre ehemaligen Bewohner haben sich neue, provisorische Unterkünfte gebaut. Ärmlich wirkt das Wohnviertel der Überlebenden. Aber vor jedem Haus, auf jeder Fensterbank stehen und hängen Töpfe mit Pflanzen. In Konservendosen und Milchpackungen ziehen die Menschen Salat, Kräuter, alles was hier wächst und sich ernten lässt. Aus der Not geboren sind diese Topfgärten, ein kleiner Beitrag um die eigene Ernährung zu sichern. Und doch scheinen die Menschen stolz darauf zu sein. Die Pflanzen machen das Viertel trotz aller Armut zu einem lebensfreundlichen Ort. Das Wachsen und Gedeihen macht den traumatisierten Überlebenden Mut auf eine Zukunft, in der Heilung und Neuanfang möglich sind.

In Judäa vor über 2500 Jahren, im Yorkshire des 19. Jahrhunderts oder auf den von den Folgen des Klimawandels hart getroffenen Philippinen unserer Tage: Die Lebenskraft der Natur ist in der Lage, Menschen auch in scheinbar ausweglosen Situationen neuen Lebensmut zu geben. Jesaja zeichnet das Bild von der blühenden Steppe vor dem Hintergrund des völligen Zusammenbruchs: Lange hat der kleine Staat Juda versucht, sich gegen seinen ungleich größeren Nachbarn Babylon zur Wehr zu setzen und seine Unabhängigkeit zu behalten. Am Ende geschieht, was sich mehr und mehr angekündigt hat: Soldaten dringen in das Land ein, belagern die Städte, hungern die Menschen aus, zerstören Jerusalem und den Tempel. Die Gärten, Weinberge und Felder sind verwüstet, Familien zerrissen, Menschen von der Gewalt für immer gezeichnet. Die einfachen Menschen werden in dieser Misere zurückgelassen, die Gebildeten werden verschleppt, viele hundert Kilometer weit nach Osten, ins Exil nach Babylon. Aus dem blühenden Land ist eine verwüstete Ödnis geworden.Und auch die Hoffnungen der Menschen sind versiegt. Tod und Trümmer auf allen Ebenen. Die Steppe wird blühen – wer soll das in solch einer Situation ernsthaft glauben?

Jesaja tut das, mit der ganzen Kraft seiner poetischen Sprache. Er entwirft kein Bild einer vorsichtig aufkeimenden Hoffnung. Die Lebenskraft, von der er spricht, ist vielmehr im Überfluss vorhanden: Wüste und trockenes Land werden blühen, so üppig, dass es scheint, sie wollten singen, jubeln, jauchzen.Die verlassene Einöde wird zu einem sicheren Ort, an dem kein Raubtier mehr das Leben bedroht. Und wie die Wüste, so verwandelt sich auch die Dürre im Inneren der Menschen. Die Lebenskraft löst Lähmungen und öffnet Augen, sie hilft die Angst zu überwinden. Die Menschen werden so selbst zum blühenden Garten Gottes. Gottes Vergeltung besteht nicht in neuem Krieg – sondern in der Heilung und Rettung der Menschen.

„Stärkt die schlaffen Hände / und festigt die wankenden Knie! Sagt den Verzagten: / Seid stark, fürchtet euch nicht! Seht, euer Gott! / Die Rache kommt, die Vergeltung Gottes! / Er selbst kommt und wird euch retten. Dann werden die Augen der Blinden aufgetan / und die Ohren der Tauben werden geöffnet. Dann springt der Lahme wie ein Hirsch / und die Zunge des Stummen frohlockt, denn in der Wüste sind Wasser hervorgebrochen / und Flüsse in der Steppe. Der glühende Sand wird zum Teich / und das durstige Land zu sprudelnden Wassern. Auf der Aue, wo sich Schakale lagern, / wird das Gras zu Schilfrohr und Papyrus. Dort wird es eine Straße, den Weg geben; / man nennt ihn den Heiligen Weg. Kein Unreiner wird auf ihm einherziehen; / er gehört dem, der auf dem Weg geht, / und die Toren werden nicht abirren. Es wird dort keinen Löwen geben, / kein Raubtier zieht auf ihm hinauf, kein einziges ist dort zu finden, / sondern Erlöste werden ihn gehen. Die vom HERRN Befreiten kehren zurück / und kommen zum Zion mit Frohlocken. Ewige Freude ist auf ihren Häuptern, / Jubel und Freude stellen sich ein, / Kummer und Seufzen entfliehen.“

Ein bisschen erinnert mich Jesaja hier an Paul Gerhardt, den evangelischen Theologen und Dichter, dem wir so viele Lieder verdanken. Kurz nach dem 30-jährigen Krieg, angesichts von Gewalt, Verwüstung und Untergang schreibt er ein Lied, das vielleicht zu den schönsten Liedern im Gotteslob überhaupt gehört: Geh aus mein Herz und suche Freud. Er beschreibt die Fülle der sommerlichen Gärten, Blumen und Getreide, Vögel und Bienen – alles ist im Überfluss vorhanden und singt ein Loblied auf Gott. Voller Lebenskraft ist dieses Lied, seine Freude über Gottes Schöpfung ist unmittelbar ansteckend. Dass uns dieses Lied aus einer der dunkelsten Zeiten Europas überliefert ist, ist für mich ein echtes Wunder.

Jesaja und Paul Gerhardt – beide entfalten mit ihren poetischen Texten den innersten Kern des biblischen Glaubens an Gott: Seine schöpferische Kraft verwandelt die Welt. Denn am Anfang, so beginnt die Bibel, da ist die Welt ein unwirtlicher Ort, wüst und leer, dunkel, chaotisch und lebensfeindlich. Gott tritt mit dieser Welt in Beziehung. Er spricht sie an – und die Welt verwandelt sich. Sie wird zu einem guten Ort, zu Gottes Schöpfung, zum Lebenshaus für Pflanzen, Tiere und Menschen. Der Glaube an den Gott der Bibel ist der Glaube an die Kraft des Lebens, die den Tod verwandelt. Und immer dann, wenn Menschen Heilung und Befreiung erfahren, ist die verwandelnde Lebenskraft Gottes am Werk. Es ist die gleiche Lebenskraft, die den Jüngerinnen und Jüngern Jesu am Ostermorgen die Augen öffnet und sie erkennen lässt, dass Jesus lebt. Der Morgen der Schöpfung ist gleichzeitig der Morgen der Auferstehung.

Warum gehen Menschen das Wagnis ein und setzen darauf, dass die schöpferische Kraft Gottes auch ihr Leben trägt? Vermutlich wäre das nicht möglich, wenn Menschen nicht immer wieder, im Kleinen wie im Großen diese Lebenskraft erfahren würden. Jeden Winter verwandelt sich die judäische Wüsten nach den Regenfällen des Winters in ein regelrechtes Blütenmeer. Anstelle der staubigen Hügel sind da grüne Wiesen, auf denen Anemonen und Zyklamen blühen. Diese berauschende Erfahrung erinnert die Menschen seit Jesajas Zeiten und bis heute jedes Jahr neu an die verwandelnde Lebenskraft Gottes. Und auch wir erleben in diesen Wochen das Wunder der neu erwachenden Natur. Die Dunkelheit und Starre des Winters geht zu Ende, wir staunen dankbar über Krokusse und Osterglocken und finden dabei vielleicht auch die Kraft, alte Gewohnheiten abzulegen und Neues zuzulassen. Es ist ein besonderes Geschenk, dass die 40 Tage vor Ostern für uns in Europa mit diesem Neuanfang in der Natur zusammenfallen.

Szenenwechsel

Wenn wir die hoffnungsvollen Worte aus dem Jesajabuch heute hören, dann können wir gar nicht anders, als an die Menschen zu denken, die heute vor dem vollkommenen Zusammenbruch ihrer Welt stehen – an die Menschen in der Ukraine, die von einem Tag auf den anderen ihren Alltag und ihre Zukunft verloren haben, die ein unberechenbarer Aggressor mit Krieg, Angst und Gewalt überzieht. Und an die Menschen in Russland, die von ihrer Regierung in Krieg und Isolation gezwungen werden. Der Glaube an die schöpferische Kraft Gottes blendet den Schrecken des Todes nie aus. Die Texte der Bibel sind durchdrungen von der Erfahrung menschlichen Leids, sie reden es nicht klein. Der Glaube an Gottes Schöpferkraft ist in der Bibel ein Glaube trotz allem. Er ist und bleibt ein Wagnis – und ein Akt des Widerstands gegen alle Mächte und Gewalten, die das Leben zerstören und die Welt in einen lebensfeindlichen Ort des Chaos verwandeln wollen. Jesajas Vision von der üppig blühenden Steppe ist auch eine Weigerung, sich mit dem Sieg des Stärkeren abzufinden. Sie setzt darauf, dass es trotz Zerstörung und Vernichtung eine kreative Kraft in der Welt gibt, klein wie ein Senfkorn vielleicht, aber wirksam und unaufhaltsam. Diese schöpferische Lebenskraft ist mitten unter uns, sucht sich ihre Spielräume, findet noch die unwahrscheinlichsten Wege, schenkt Hoffnung und Heilung. Manchmal reichen eine Pflanze in einem Topf oder ein blühender Mandelzweig, um darauf vertrauen zu können und sich von Gottes Lebenskraft verwandeln zu lassen. Trotz allem.

Am Ende der Geschichte vom geheimen Garten hat Mary den Schlüssel gefunden, der in einen verwilderten und vollkommen zugewucherten Garten führt. Seit zehn Jahren hat ihn kein Mensch betreten. Mit ihren Freunden erweckt Mary den Garten zu neuem Leben. Sie graben den Boden um und lockern ihn auf, sie schneiden verwilderte Büsche zurück und befreien überwucherte Pflanzen. Doch es ist nicht nur Mary, die den Garten gestaltet und verwandelt. Der Garten verwandelt auch Mary. Die Arbeit, aber auch die Erfahrung des neuen Wachstums lässt sie mehr und mehr zu einem selbstbewussten, lebendigen Mädchen werden. Im wiedererweckten geheimen Garten lernt auch Marys kranker Cousin das Gehen. Und schließlich findet ihr Onkel, der den Garten nach dem tragischen Tod seiner Frau für immer verschließen wollte, dort Heilung und Frieden. Der geheime Garten ist zu einem heilsamen Ort geworden. Die Lebenskraft, die der Garten entfaltet, strahlt auf das Leben derjenigen aus, die dort verweilen. Ihre innere Dürre hat sich verwandelt – die Steppe blüht.