Abrahamfigur, Abrahamerzählungen und das Genesisbuch. Thesen

zu biblischen Büchern

  1. Der große genealogische Bogen von Adam über Noah, Set, Abraham, Isaak und schließlich Jakob/Israel hin zum Volk Israel ist theologisch (und literarisch!) genial, weil er jeden einzelnen Leser verwandtschaftsmäßig mit den erzählten Ereignissen verknüpft. Dieser große Bogen ist allerdings historisch eindeutig „falsch“. Er ist eine literarische Erfindung.
  2. Wer Abraham war, wissen wir nicht. Wann Abraham lebte, ist unbekannt. Die ältesten in der Genesis noch rekonstruierbaren Abrahamerzählungen sind frühestens in die Zeit des David und Salomo zu datieren. Sie spiegeln Themen und Erfahrungen ihrer Zeit.
  3. In der Abrahamfigur spiegeln sich generell israelitische (Gottes)erfahrungen. Die geschichtlich in der Exoduserfahrung und der nachfolgenden Beziehungsgeschichte zwischen Israel und „dem Feuer aus dem Dornbusch“ gewachsene Gotteserkenntnis (Gottesliebe) wird zurückprojiziert auf eine Gestalt aus uralter Zeit, aus der Zeit des Anfangs. Kollektive Erfahrungen werden individualisiert – ein volkspädagogischer Geniestreich.
  4. Es gibt – nicht zuletzt aufgrund eines komplizierten Entstehungsprozesses der Geschichten – nicht ein Abrahambild in der Genesis, sondern mehrere.
  5. Wichtig ist, daß beachtet wird, daß viele sog. Abrahamerzählungen keine Glorifizierung ihres „Helden“ betreiben (im deutlichen Kontrast zu so manchem Ausleger!) Abraham ist weniger Heldengestalt des Glaubens, als paradigmatische Spiegelungsfigur eines gläubigen Menschen mit all seinen Tiefen (vgl. nur Gen 12,10-20 und Gen 16) und wenigen Höhepunkten (vgl. Gen 12,1ff. und 18,16-33).
  6. Eine Konzentration der Auslegung allein auf Abraham, den Glaubensheld, verfehlt auch insofern die biblischen Erzählungen, weil Abraham in einigen Geschichten eher eine Nebenfigur darstellt (vgl. vor allem Gen 16 und 21 sowie Gen 24). Die Rolle der in diesen Erzählungen dominierenden Figuren ist besonders zu beachten.
  7. Zu klären sind in der wissenschaftlichen Exegese wie in der praktischen Bibelarbeit jeweils die theologischen Themen der Erzählungen (vgl. z.B. Gen 18,1-8 mit 19,1-11 zum Thema „Gastfreundschaft“; Gen 13,5-9 (und Gen 14!) sowie Gen 20 zum Thema „Frieden und Konfliktregelung“ und zum Thema „Gottesgerechtigkeit“ vgl. Gen 18,16-33). Das theologische Thema „Verheißung“ ist zwar ein auf den ersten Blick stark prägendes Thema, es steht funktional aber in Zusammenhang mit dem großen genealogischen Bogen. Die paradigmatische Bedeutung des Abraham als Uranfang einer Gottesbeziehungsgeschichte wird auf diese Weise erzählimmanent unterstrichen.

 

Thomas Nauerth