Gewaltverzicht und Feindesliebe

zu biblischen Texten

Materialien zu Gewaltverzicht und Feindesliebe in der Bergpredigt

Einige Zitate aus der exegetischen Forschung zur Frage, wie Jesu Forderung nach Gewaltverzicht und Feindesliebe zu verstehen und historisch einzuordnen ist.

„Kein anderes Volk in der Antike hat sich so be­harrlich und erbittert gegen die Überfrem­dung durch die hellenistische Kultur und die Un­ter­drückung durch die römische Weltmacht gewehrt, wie das jüdische (…). Durch die Herrschaft des Herodes und seiner Söhne und das korrupte Regiment der Prokuratoren – nicht zuletzt des Pilatus – hatte sich die Situation im jüdischen Palästina so zugespitzt, daß es schein­bar nur noch drei Möglichkeiten gab: den be­waffneten, revo­lu­tionären Widerstand, die mehr oder weniger op­portunistische Anpas­sung an das herrschende Sys­tem (…) und die passiv duldende Resignation. (…)

In diesen dunklen Kontext (…) muß Jesu Botschaft und Wirken »eingezeichnet« werden, wenn wir sie heute richtig verstehen wollen. Brachte er doch in radikal neuer Weise eine Alternative, um aus den obengenannten drei heillosen Mög­lich­kei­ten, dem brutalen circulus vitiosus von Gewalt und Gegengewalt, dem opportunistischen Mit­läufer­tum und der dumpfen Resignation auszu­brechen, eine Alternative, die auch heute ihre Bedeutung nicht verloren hat. (…) Während für die Zeloten die Tötung des gottlosen Feindes im Eifer für Got­tes Sache nach dem Vorbild des er­sten »Zeloten« Pinehas 4. Mose 25 ein Grundgebot war, (…) forderte Jesus unter der Be­rufung auf die Liebe des Vaters zu allen Menschen und in radikaler Aus­deutung des alt­testamentlichen Liebesgebots den Gewaltver­zicht und die Feindesliebe. (…)

Das Lie­besgebot wurde für ihn gewissermaßen zum »Le­bensgesetz der Königsherrschaft«. (…) Hier liegt das eigentliche Neue und Revolutionäre an Jesu Botschaft (…). Die tiefste Provokation lag darin, daß er diese seine Botschaft von der bedin­gungs­lo­sen Liebe und Vergebungsbereitschaft (…) mit einem messianischen Anspruch vortrug. An der Entscheidung gegenüber seiner Bot­schaft hing Leben oder Tod, die Aufnahme in die Gottesherrschaft oder der Ausschluß von ihr.“

[aus: Martin Hengel, Gewalt und Gewaltlosigkeit. Zur »politischen Theologie« in neutestamentlicher Zeit, Stuttgart 1971 (= Digitale Bib­liothek Sonderband: Handbibliothek Christlicher Friedenstheologie).
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„Jesu Weg ist der der Gewaltlosigkeit, des per­sönlichen Appells, der sich primär an das Gewissen des einzelnen richtet, der Weg der geduldigen Überzeugung und der konkreten Lebenshilfe. Darum lehrt er in Gleichnissen, einem nicht emo­tionalen, sondern durchaus »rationalen Beweis­mittel« und damit kaum brauchbar für den Dema­gogen. Jesus sucht das echte »Einverständnis«, nicht eine durch Gewalt oder Furcht erzwungene Zustimmung.“

„Der Verzicht auf Gewalt ist bei ihm nicht Schwäche, im Gegenteil, er ist wie nichts anderes Aus­druck seiner souveränen Stärke, die es nicht nötig hat, den anderen mit Füßen zu treten, sei es auch um noch so edler Zwecke willen. Diese Kraft beweist sich darin, daß sie, statt anderen Leid zu­zufügen, bedingungslos bereit ist, selbst das Lei­den auf sich zu nehmen. (…) Die Kraft der Ge­waltlosigkeit, die von Jesus ausging, manifestiert sich für uns darum besonders in den beiden größ­ten Märtyrern unseres Jahrhunderts, in Mahatma Gandhi und Martin Luther King.“

Martin Hengel, War Jesus Revolutionär? Stuttgart 1970 (= Digitale Bibliothek Sonderband: Handbibliothek Christlicher Friedenstheologie).
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Nicht auslegen will ich Christi Lehre: ich will nur erzählen, wie mir das, was in ihr einfach, klar, ver­ständlich, unzweifelhaft und an alle Men­schen ge­richtet ist, klar wurde, und wie das, was mir klar geworden, meine Seele umge­wandelt und mir Frieden und Glück gegeben hat. (…)

Die Stelle, die für mich zum Schlüssel des Ganzen wurde, war die Stelle aus dem 5. Kapitel Matthäi, Vers 38, 39: »Ihr habt gehöret, daß da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. – Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Uebel« …..

Plötzlich, zum erstenmal verstand ich diesen Vers klar und ein­fach. Ich verstand, daß Christus gerade das sagt, was er sagt. (…) Diese Worte erschienen mir plötzlich ganz neu, als hätte ich sie nie vorher gelesen. (…) Und nachdem ich diese Worte so ver­standen hatte, wie sie gesagt waren, ward mir sofort alles klar, was mir bis dahin dunkel ge­wesen, und was mir übertrieben erschienen war, erschien mir jetzt voll­kommen richtig. Ich begriff zum erstenmal, daß der Schwerpunkt des ganzen Gedankens in den Worten liegt: »Widerstrebet nicht dem Uebel«, und daß das Nachfolgende nur eine Er­klärung des ersten Satzes ist. Ich begriff, daß Christus durchaus nicht verlangt, daß man den Backen biete und den Mantel hergebe, nur um des Leidens willen; daß er aber verlangt, daß wir dem Uebel nicht widerstreben, und ausspricht, daß wir dabei vielleicht auch zu leiden haben werden.“

Leo Tolstoj, Mein Glaube, Jena 1917, 24 ( = Digitale Bibliothek Sonderband: Handbibliothek Christlicher Friedenstheologie)
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„Die Tatsachen zwingen uns, und der Mensch lässt sich nun einmal nicht ändern, der Lauf der Welt ist allemal stärker. Diesem Denken nun, dem Weltlauf selbst, stellt sich Jesus entgegen. „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde.“ So redet nicht einer, der resigniert. Eher schon einer, der angreift, der das Gesetz „Wie du mir, so ich dir“ durchschaut als das, was es ist: unmenschlich, tödlich. Der deshalb die Mechanik von Gewalt und Gegengewalt un­terbricht und uns tatsächlich vorschlägt, es anders zu versuchen.“

„Das bloß negative Gebot „Du sollst dem Bösen nicht widerstehen“ ist also erst dann richtig ver­standen, wenn es in die positive Feindesliebe um­gesetzt wird. Nicht die Hinnahme, sondern eine Initiative gegen das Böse ist damit gefordert, die seine Überwindung will und im Auge behält.“
„Gott selbst gönnt sich seinen Feinden, behauptet Jesus. Er liebt die, die ihn nicht lieben, aber nicht, weil sie ihn nicht lieben, sondern damit sie ihn lieben können. In dieser Liebe, die einfach anfängt und nicht aufhört und so Liebe ermöglicht, ist er schöpferisch, ist er vollkommen. (…) So ernsthaft suchte uns seine Liebe, dass er sich selbst lieber den Feinden und ihrem tötenden Widerspruch ausliefern wollte, als sie für sich zu behalten. So also ist Gott, so stark seine Liebe, dass sie, ohne noch unterzugehen, so schwach werden konnte. Seitdem und weil dies geschehen ist, es es möglich: Liebt eure Feinde!“

aus: Thomas Pröpper, Gottes Sonne über Böse und Gute. In: Ders., Gottes Freundschaft suchen. Predigten, geistliche Gedanken und Gebete, Regensburg 2016, 106-111.
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„Wir bemerken zuerst, daß die beiden Abschnitte Matth. 5,38-42 (»ihr sollt nicht widerstreben dem Übel«) und Matth. 5,43-48 (»liebet eure Feinde«) zusammengehören und eine Einheit bilden. Dem anscheinend negativen Befehl, keinen Widerstand zu leisten, folgt unmittelbar das positive Gebot allumfassender Liebe. Wer dies begreift, könnte Jesu Worte nicht verzerren, als ob er meinte: »Nimm das Böse ruhig als gegeben hin. Übeltätern gegenüber übe vornehme Zurückhaltung. (…)«

Jesu Pazifismus, wenn wir schon das Wort einmal gebrau- chen sollen, ist niemals »Passivismus«. (…)

Es gibt Fälle (…), wo dem »Ja« zum Gebot der Liebe das »Nein« zu gewissen Mitteln und Metho­den vorausgehen muß (…). Erst wenn man der al­ten Art abgesagt hat, meint Jesus, kann man es mit der neuen versuchen. Wenn wir willens sind, diese Worte unbefangen auf uns wirken zu lassen, möchte Jesu Weg so klar erscheinen, daß der Christ auf seiner Wanderschaft, selbst wenn er ein Tor wäre, ihn kaum verfehlen könnte.“

„Die Friedebringer werden selig gepriesen, weil sie Gottes Kinder sind und teilhaben an seiner Natur. Seine Jünger sollen sogar ihre Feinde lieben, damit sie »Kinder seien ihres Vaters im Himmel«. Sie sollen darnach streben, »vollkommen« zu sein, weil »ihr Vater im Himmel vollkommen ist«. Wir ha­ben hier eine auf Theologie begründete Sitten­leh­re, eine Ethik, die die Menschen als Brü­der auffaßt, begründet auf eine Theologie, die in Gott den Vater sieht. (…) Wir wollen Jesus folgen in der Anwendung dieser Ethik.“

George H.C. Macgregor, Friede auf Erden. Eine biblische
Grundlegung der Arbeit am Frieden. München 1955, 45 ( = Handbibliothek Christlicher Friedenstheologie).
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„Tatsächlich lehrt Jesus uns aber nicht die Unter­werfung unter das Böse, sondern die Weigerung, dem Bösen mit seinen eigenen Mitteln zu be­gegnen. Wir sollen nicht zulassen, dass der Gegner uns die Methoden unserer Gegnerschaft diktiert.  Er bestärkt uns darin, über Passivität wie auch Ge­walt hinauszugehen und einen dritten Weg zu finden, einen Weg, sich durchzusetzen und dennoch Gewalt zu meiden. Die richtige Über­set­zung wäre die der frühesten Wiedergabe dieses Spruchs in den neutestamentlichen Briefen: „Ver­geltet niemand Böses mit Bö­sem“ (Röm 12,17; vgl. 1 Thess 5,15; 1 Petr. 3,9).“

„Vor dem Hintergrund der an Kampf und Mühen reichen Geschichte seines eigenen Vol­kes eröffnet er einen Weg, sich dem Bösen zu widersetzen, ohne es zu spiegeln, den Unterdrücker zu be­kämpfen, ohne ihn nach­zuahmen, den Feind zu neu­tralisieren, ohne ihn zu zerstören. Diejenigen, die nach Jesu Worten gelebt haben (Lew Tolstoi, Mahatma Gandhi, Muriel Lester, Martin Luther King, Dorothy Day, César Chavez, Hildegard und Jean Goss-Mayr, Mairead Corrigan Maguire, Adolfo Pérez Esquivel, Aung San Suu Kyi und unzählige weniger bekannte Per­sonen), weisen uns einen neuen Weg, dem Bösen zu begegnen, ein Weg, der Möglichkeiten einer persönlichen und gesellschaftlichen Transformation eröf­fnet, welche wir heute erst zu begreifen beginnen.“

Walter Wink, Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der
Gewaltfreiheit, Regensburg 2014, 91f. + 100
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