Die Frage in der Überschrift scheint einfach zu beantworten: „Das Johannesevangelium lässt sich in einen Prolog, zwei Hauptteile und einen Epilog gliedern: Prolog (Joh 1,1-18): Wesen und Wirken des Logos.“ (Kobel, Esther, Art. Evangelium nach Johannes, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2017)
Der Hörer, die Hörerin kann allerdings ins Nachdenken kommen, wenn in Vers 14 dieses Prologs davon gesprochen wird, dass wir „seine Herrlichkeit“ geschaut haben:
14 Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.
Wir haben sie schon gesehen? Nun mit „wir“ sind natürlich nicht wir, die Leser und Leserinnen gemeint, sondern diejenigen, die diesen Prolog formuliert haben. So die gängige Auslegung. Vielleicht aber ist dieses „wir“ doch doppeldeutiger, als weithin gesehen: „Weniger sahen und weniger hörten ihn die Juden, als du ihn siehst und hörst in den Schriften der Evangelien, nur daß du deine Augen und Ohren, mit denen du jenen sehen und hören kannst mitbringen mußt.“ (Erasmus v. Rotterdam) Wenn Erasmus Recht hat, haben wir, die Leser und Leserinnen, ihn wahrlich schon gesehen, denn dreimal haben wir ein „Evangelium“ „von Jesus Christus, Gottes Sohn“ (Mk 1,1) gelesen, drei verschiedene Perspektiven und viele viele Geschichten haben uns diesen Jesus aus Nazareth in Galiläa in all seiner „Herrlichkeit“ gezeigt: ein Menschensohn voller Wunder, ein Menschenfischer und Gotteserzähler, ein Prediger vom kommenden Reich, wie es noch keinen gab.
Könnte es also sein, dass man das Johannesevangelium insgesamt in kanonischer Perspektive, also in heutiger Form und aufgrund heutiger Stellung im NT als Epilog der Evangelien zu lesen hat?
Es wäre auszuprobieren…