„Mein Geliebter komme in seinen Garten! Über die Bibel als Buch und Kanon.

Was halten wir in der Hand, wenn wir die Bibel in der Hand halten? Halten wir ein richtiges Buch in der Hand oder eher eine Art von unsortiertem Zettelkasten? Eine Klärung dieser Frage ist für jede biblische Lektüre von immenser Bedeutung.
Die Bibel ein Zettelkasten?
Zugegeben, wenige nennen die Bibel explizit „Zettelkasten“, aber viele denken dies implizit; alles landläufig bekannte „Wissen“ der Exegese scheint doch nur diesen Schluss zu erlauben: Ist denn die Bibel nicht letztlich nur eine ziemlich wilde Sammlung sehr unterschiedlicher, einzelner, sich gegenseitig auch noch widersprechender Texte? Ist denn dann die Bibel als Buch nicht nur eine schlechte Illusion? Haben wir denn nicht sogar in Bezug auf Jesus von Nazareth vier untereinander widersprüchliche und historisch alles andere als zuverlässige Berichte, sogenannte Evangelien! Und hat denn nicht erst die historisch-kritische Forschung Licht in dieses Text- und Zettelchaos gebracht und eine historisch plausible Entstehungsreihenfolge biblischer Texte entworfen, Sekundäres vom Primären geschieden und endlich auch die unterschiedlichen Gattungen biblischer Texte vernünftig sortiert?
So oder so ähnlich wird die Bibel als Buch wahrgenommen. Wir sagen es schon unseren Kindern: „Dieses Buch sieht aus wie eines, aber in Wirklichkeit…“, so „informiert“ das Vorwort von „Meine Schulbibel. Ein Buch für Sieben- bis Zwölfjährige.“
Bibelunterricht und Bibelarbeit beginnen daher in der Regel damit, aus der Textsammlung Bibel Texte rauszukopieren. Bibelunterricht und Bibelarbeit haben mit einem einzelnen Text zu tun (Perikope genannt), nicht mit dem Buch Bibel. Das Buch Bibel dient so faktisch lediglich als nützlicher Zettelkasten für die eine oder andere Unterrichtsstunde, den einen oder anderen Gemeindeabend. Mehr ist da nicht, kann da wissenschaftlich nicht sein.
Oder sollte sich der exegetische Befund in den letzten Jahrzehnten etwa geändert haben? In der Tat!
Die Bibel als komponiertes Buch und komponierter Kanon !
In den letzten Jahrzehnten sind in der Bibelwissenschaft grundlegende Aufbrüche und Umbrüche zu beobachten. Die traditionelle Position historisch-kritischer Exegese „Bibel als Zettelkasten“ ist keinesfalls mehr Konsens. Auf drei unterschiedlichen Lernwegen hat man Bibel als Buch wieder neu sehen gelernt.
Entdeckt wurde, dass die biblischen Texte weithin als literarische Texte anzusehen sind. Entdeckt wurde weiter, dass die biblischen Bücher nicht reine Textsammlungen darstellen, sondern oft durchkomponierte Sinneinheiten sind. Entdeckt wurde schließlich auch, dass der biblische Kanon sich weniger dem Zufall verdankt als redaktioneller Planung, es gibt „eine bei allen Variationen doch so stabile Anordnung und darüber hinaus so viele literarische Verstrebungen, dass man mit mehr rechnen muss als nur einer Reihe von in sich selbständigen Büchern. Beide Kanones bilden in sich geschlossene Sinngefüge.“ (Norbert Lohfink)
Diese Entdeckungen sind keineswegs abgeschlossen und keineswegs unumstritten. Ein großer Grundlagenstreit kennzeichnet aktuell die exegetische Landschaft. Nach meiner Einschätzung werden sich die skizzierten drei Entdeckungen allerdings langfristig durchsetzen. Das bedeutet: Die Bibel hat als Buch Bedeutung. Die Bibel ist als Buch gedacht, sie ist als Buch konzipiert. Die Unterschiedlichkeit der biblischen Texte ist nicht Chaos, sondern diese Texte bilden einen literarischen Kosmos. Auch das Buch Bibel, der Kanon, kann als eine künstlerisch gekonnt durchkomponierte Collage verstanden werden.
Diese Entdeckungen ermöglichen ganz neue bibeldidaktische Perspektiven: Biblische Texte gewinnen ihre Stimme und Aussage nur dann in vollem Umfang, wenn sie innerhalb ihres jeweiligen Buchganzen literarisch gelesen und gedeutet und danach in den Kontext des kanonischen Buches Bibel insgesamt gestellt werden.
Der Plan hinter der Büchersammlung Kanon
Welcher Plan liegt dem kanonischen Buch Bibel zugrunde? Bei jeder auf dem ersten Blick unübersichtlichen Struktur braucht es einen Plan. Ohne Plan findet man auch im literarischen Kosmos Bibel kaum Orientierung. Unsere deutschen Bibelausgaben beantworten solche Fragen mit dem Inhaltsverzeichnis. Da findet sich als Plan eine Standardgliederung des AT: Gesetzbücher (oder: fünf Bücher des Mose); Geschichtsbücher; Lehr- und poetische Bücher; prophetische Bücher und daran anschließend das NT mit dem Buch Offenbarung als Abschluss. Dieser Plan der Bibel unserer gängigen deutschen Übersetzungen inszeniert eine historische Abfolge: Von der Schöpfung am Uranfang bis hin zur Neuschöpfung am Weltende. Nun wissen wir allerdings nach fast 200 Jahren historisch-kritischer Methode, dass diese historische Abfolge eine historische Illusion ist. Überschriften wie „Geschichtsbücher“ schaffen zusätzliche Illusionen und verstärken so Enttäuschung und Entfremdung. Wenn auf einem Stadtplan „See“ steht, muss auch Wasser da sein; wenn Menschen des 21. Jahrhunderts „Geschichtsbücher“ lesen, dann erwarten sie etwas Historisches. Sie finden aber in den „Geschichtsbüchern“ vor allem eins: Geschichten. Bereits Johanna Klink hatte festgestellt: „Das historisierende Bibelerzählen, als handle es sich um die exakte Reportage der Taten Gottes und der Menschen, ist aber der Hauptgrund dafür, daß Kinder- und Erwachsene! – Mühe mit den biblischen Geschichten haben, wenn sie älter werden.“. Man sollte daher bibeldidaktisch solch eine Fehleinschätzung nicht auch noch durch Inhaltsverzeichnisse unterstützen. Was also tun? Nun, im Neuen Testament findet sich die Erinnerung an eine bibeldidaktisch viel sinnvollere Strukturierung des Alten Testaments. Zum Beispiel in Lk 24. Dort ist die Rede von „Gesetz und Propheten“ (Lk 24,27) bzw. von „Gesetz, Propheten und Psalmen“ (Lk 24,44). Gemeint ist damit unser Altes Testament. In der Fachexegese spricht man von der sog. jüdischen Kanoneinteilung. Sie findet sich nicht nur in Lk 24, sondern auch in Mt 5,17; 7,12; 11,13; 22,40; Lk 16,16; 24,27.44; Apg 24,14 und in Röm 3,21. Offensichtlich haben die neutestamentlichen Autoren eine Vorliebe für diesen Plan ihrer Bibel, also unseres Alten Testamentes. Diese Vorliebe scheint nicht zuletzt didaktische Gründe zu haben.
Drei Teile und eine Einheit: der jüdische Kanon
Die jüdische Kanoneinteilung ist von großer Einfachheit: Das Alte Testament besteht aus lediglich drei Buchteilen. Den ersten Teil − Ausgangspunkt und zentraler Kern − bildet die Tora oder das „Gesetz“, also der Pentateuch, die ersten fünf Bücher des Mose, öfter auch personalisiert einfach als „Mose“ bezeichnet. Der zweite große Buchteil heißt „Propheten“. Nach dem jüdischen Kanonplan gibt es also keinerlei Geschichtsbücher, es gibt nur Vordere Propheten (= Jos – 2 Kön) und Hintere Propheten (= Jes – Mal). Neben den Kanonteilen „Tora/Mose/Gesetz“ und „Propheten“ gibt es dann noch einen dritten Teil, in der Regel neutral überschrieben mit „Schriften“. Hier geht es vor allem um existentielle Fragen des religiösen Lebens. Dieser Teil beginnt mit den Psalmen − und wird daher manchmal auch lediglich „Psalmen“ genannt, wie eben in Lk 24,44.
Das Alte Testament präsentiert sich in dieser Anordnung deutlich anders als in den uns vertrauten Inhaltsverzeichnissen. Es zeigt sich eine wahrlich einfache und übersichtliche Struktur, ein bibeldidaktisch genialer Plan. Von Geschichte ist nicht die Rede, sondern von Prophetie. Mögliche historische Reihenfolgen spielen keine Rolle. Erzählt wird vom Werden des Gottesvolkes und Gottesgesetzes (Tora/Mose), vom Leben mit der Tora in den politischen (Propheten) wie privaten Volks- bzw. Lebensgeschichten (Psalmen).
Die Frage, ob solche einfache Einteilung des AT auch vom Text der alttestamentlichen Bücher her zu legitimieren ist, ist eine fachwissenschaftliche Frage, die für Fachwissenschaftler interessant ist. Für Bibelpraktiker und Bibeldidaktiker sollte reichen, dass im NT auf die jüdische Kanoneinteilung zurückgegriffen wird, um mit dieser jüdischen Einteilung zu arbeiten.
Hinzu kommt, dass inzwischen diskutiert wird, ob die Strukturierung des Neuen Testaments sich nicht an diese Inszenierungsidee des hebräischen Alten Testaments anlehnt. Die Übereinstimmungen zwischen der jüdischen Kanonstruktur des AT und dem Aufbau des NT sind frappierend. Die vier Evangelien, durch die Eröffnung Mt 1,1ff auch sprachlich an die Genesis (vgl. Gen 5,1) anklingend, bilden einen ersten Buchteil, der für das NT eine ganz ähnliche Funktion besitzt wie der das Alte Testament eröffnende Buchteil „Tora“. Die Apostelgeschichte wiederum (die ja vom Lukasevangelium getrennt worden ist!) bildet eine narrative Überleitung zu dem folgenden Briefcorpus und eine narrative Einführung vieler der dann in den Briefen genannten Personen und Orte. Die Ähnlichkeit dieser Konstruktion mit der Konstruktion des zweiten Teils des jüdischen Kanons, in dem ebenfalls zunächst Propheten narrativ eingeführt werden (Jos–Kön), bevor wir ihre Stimme vernehmen (Jes – Mal) ist verblüffend. Das Neue Testament scheint in ganz ähnlicher Weise zweigeteilt wie das Alte Testament: Statt Tora und Propheten nun Evangelium und Apostel!
Unter Rückgriff auf die jüdische Kanoneinteilung und diesen Beobachtungen zum NT ergäbe sich ein fünfteiliger Gesamtplan der christlichen Bibel, eine Kanonarchitektur, die Orientierung verschafft und Zuordnungen klärt. Eine Kanonarchitektur, die durch ihre Einfachheit enormes didaktisches Potential besitzt: Die Bibel hat fünf Teile und fünf Finger hat die Hand …

Die Bibel als kanonischer Landschaftspark
Wenn man nach Bildern sucht, um diese Architektur des Kanons anschaulich zu machen, dann kann man natürlich mit den bewährten Bildern arbeiten, die sich in den Materialien praktischer Bibelarbeit vielfältig finden: ein Bücherregal ist ebenso denkbar wie eine fünfteilige Bibelstadt. Die Frage aber ist, ob es nicht ein anderes Bild geben könnte, ein Bild, das emotionaler, wärmer, einladender wäre, ein Bild, mit dem man gerade auch die vielfältigen Querbezüge mit denen der Kanon durchzogen ist, noch sinnenfälliger abbilden kann. Welche Realität wäre biblisch gut verankert und als Bild dergestalt zu inszenieren, welches biblische Bild spricht auch den heutigen Menschen an? Ein kleiner Text des Alttestamentlers Ernst Axel Knauf zeigt, in welche Richtung man wohl suchen sollte: „Ist die Bibel ein Labyrinth, das menschenfressende Untiere bevölkern? Ich erlebe sie als einen Park, auf dessen Weisheitswiesen und in dessen Prophetenhainen mein Blick sich weitet, mein Mut erfrischt und mein Herz fröhlich wird. Wie gerne würde ich mich in ihr verlaufen oder verlieren.“
In der Tat, die Bibel im Modell eines Landschaftsparks zu denken, das hat Charme. Die thematischen Querbezüge ergeben schöne Wanderwege, viele andere Metaphern und Bilder ließen sich ebenfalls mühelos integrieren. Auch wenn es zu diesem Modell „Bibel als Landschaftspark“ noch kein Bibelplakat gibt, es kann als leitendes Bild im Kopf wohl durchaus helfen bei der eigenen Lesereise durch den einen, fünfgeteilten Kanon Bibel: „Mein Geliebter komme in seinen Garten und esse von seinen köstlichen Früchten!“ (Hohelied 4,16) „Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Auch wenn ich gehe im finsteren Tal, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab, sie trösten mich.“ (Psalm 23,2+4)
Thomas Nauerth
Literatur:
Ballhorn, Egbert / Steins, Georg (Hg.), Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexion und Beispielexegesen, Stuttgart 2007.
Bar-Efrat, Shimon, Wie die Bibel erzählt. Alttestamentliche Texte als literarische Kunstwerke verstehen, Gütersloh 2006
Klinghardt Matthias, Die Veröffentlichung der christlichen Bibel und der Kanon. In: Zeitschrift für Neues Testament 12 (2003) 59-64.
Klink, Johanna, Der kleine Mensch und das große Buch. Ist die Bibel ein Buch für Kinder? Düsseldorf 1978
Knauf, Axel / Gielen, Marlis / Müllner, Ilse / Söding, Thomas / Staubli, Thomas, Eine Frage – fünf Antworten: Mein roter Faden durch die Bibel. In: Katechetische Blätter 131 (4/2006) 249-254.
Lohfink, Norbert, Eine Bibel – zwei Testamente. In: Dohmen, Christoph / Söding, Thomas (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente (UTB 1893) Paderborn 1995, 71-81. 79.
Nauerth, Thomas, Fabelnd denken lernen. Konturen biblischer Didaktik am Beispiel Kinderbibel (ARP 42), Göttingen 2009
Schmidt, Hans-Peter: Schicksal. Gott. Fiktion. Die Bibel als literarisches Meisterwerk, Paderborn 2005
Steins, Georg, Kanonisch-intertextuelle Studien zum Alten Testament (SBA 48), Stuttgart 2009.
Trobisch, David, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31) Freiburg/Göttingen 1996
Weidner, Daniel/Schmidt, Hans Peter (Hg.), Bibel als Literatur, München, 2008